Berufsbildung in Forschung und Praxis
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EHB-Studie zur Selektion von Lernenden

Dank Beziehungen zur Lehrstelle

Die Rekrutierung von Lernenden ist für Betriebe keine leichte Aufgabe. Einige beschreiten dabei unkonventionelle Pfade und stellen Jugendliche ein, deren familiäres Umfeld sie kennen oder die aus dem gleichen Ort herkommen. Man kann diese Faktoren als «autochthones Kapital» bezeichnen. Die Betriebe geben damit Jugendlichen eine Chance, die unter normalen Umständen für die Lehrstelle eher nicht in Frage gekommen wären. Eine Studie der EHB zeigt, dass dieser Faktor bedeutender ist als man erwarten würde.


Das autochthone Kapital wird in 30 Prozent der Fragen, in denen es um die Rekrutierung geht, genannt. Es handelt sich somit zwar nicht um ein dominantes, aber auch nicht um ein zu unterschätzendes Kriterium.

Lehrbetriebe sind bestrebt, ihre Lehrstellen mit den «richtigen» Personen zu besetzen. Nach ihren Vorstellungen soll sich die oder der ideale Lernende in den Betrieb integrieren, bei Kolleginnen und Kollegen beliebt sein und den ausgewählten Lehrberuf mögen. Gerade KMU möchten die Risiken eines vorzeitigen Lehrabbruchs, von Konflikten und von Problemen mit der Kundschaft auf ein Minimum reduzieren (Imdorf 2018). Viele greifen deshalb bei der Auswahl der oder des «idealen Lernenden» auf Kriterien wie etwa die schulischen Leistungen und die Leistungsstufe der Sekundarstufe I, das Alter, die Motivation und Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerbern zurück. Mitunter spielt auch das Bauchgefühl beim Vorstellungsgespräch eine Rolle. Das birgt aber die Gefahr, dass schulisch Schwache, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Personen aus einfachen Verhältnissen, aber auch Mädchen aus männlich dominierten Berufen ausgeschlossen werden (Imdorf 2018; Ruiz und Goastellec 2016).

Eine Studie unter Berufsbildenden setzte sich insbesondere mit den Prozessen bei der Auswahl und Rekrutierung von Lernenden und mit den Kriterien auseinander, auf die die Lehrbetriebe zurückgreifen (Lamamra, Duc und Besozzi 2019; Duc und Lamamra 2021). Sie wurde in mehreren Kantonen der Romandie durchgeführt und bezog auch das Arbeitsumfeld der Berufsbildenden ein. Sie beleuchtete vor allem deren Einschränkungen im Alltag (Zeitmangel, fehlende Anerkennung ihrer Arbeit), ihre Rolle bei der beruflichen Sozialisation und die Aufgaben, die die Berufsbildenden übernehmen, so etwa die Rekrutierung.

Die Forschungsarbeit, die vorwiegend auf einem qualitativen Ansatz beruht, umfasste eine Dokumentenanalyse (gesetzlicher Rahmen und Reglemente für Berufsbildende), Leitfadeninterviews (N=80) und Beobachtungen am Arbeitsplatz der Berufsbildenden (N=35). Die vorliegende Analyse beruht ausschliesslich auf den Fragen, in denen es um die Rekrutierung ging (N=69).

Autochthones Kapital

Die Auswahlkriterien, die in der oben erwähnten Untersuchung identifiziert wurden, sind in unseren Resultaten zu finden. Der Fokus dieses Artikels liegt auf einem besonderen Kriterium, auf das die Lehrbetriebe bei der Auswahl ihrer Lernenden zurückgreifen, dem «autochthonen Kapital» (Renahy 2010) der Jugendlichen. Damit ist gemeint, dass Lehrbetriebe oft Jugendliche bevorzugen, die sie aus ihrem Netzwerk kennen. Sie setzen damit auf eine Ressource, die sich aus der Tatsache ergibt, dass jemand «aus der gleichen Ecke» kommt, einem nahestehenden Netzwerk angehört (berufliche Beziehungen, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Verein, Freizeitaktivitäten). Wie das soziale, kulturelle, wirtschaftliche Kapital usw., das ähnlich funktioniert, kann auch das autochthone Kapital den Zugang zum Arbeits- oder Lehrstellenmarkt erleichtern.

Das Interessante am autochthonen Kapital ist, dass diese Ressource auch von Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden kann, die sonst einem erhöhten Ausschlussrisiko unterliegen.

Das Interessante am autochthonen Kapital ist, dass diese Ressource auch von Bevölkerungsgruppen mobilisiert werden kann, die nicht immer auf das vorgängig erwähnte soziale, kulturelle und wirtschaftliche Kapital zurückgreifen können, also etwa Jugendliche aus «einfachen» Verhältnissen und/oder mit Migrationshintergrund oder Jugendliche mit schlechtem schulischem Rucksack (vgl. Duc & Lamamra 2021). Wenn Lehrbetriebe Lernende einstellen, die sie kennen, werden die üblicherweise bei der Lehrstellenvergabe angewendeten Kriterien ignoriert. Wir stellen folglich die Hypothese auf, dass dieser Auswahlmodus das Ausschlussrisiko, das mit den üblichen Auswahlprozessen und -kriterien einhergeht, zu kompensieren vermag.

Das autochthone Kapital wird in 30 Prozent der Fragen, in denen es um die Rekrutierung geht (N=20/69), genannt. Es handelt sich somit zwar nicht um ein dominantes, aber auch nicht um ein zu unterschätzendes Kriterium. In KMU wurde das autochthone Kapital häufiger genannt (N=10/22, d.h. 45%) als in Grossunternehmen (N=10/47, d.h. 20%), in Unternehmen mit Sitz in ländlichen Gebieten (N=8/14) öfter als in Unternehmen auf städtischem Gebiet (N=12/55, d.h. 57% vs. 22%). Es gibt auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen; so hat das autochthone Kapital in männlich dominierten Branchen (Industrie, Handwerk und Gewerbe, Bauwesen, Strassentransport, N=11) einen höheren Stellenwert, spielt aber auch in geschlechterdurchmischten Branchen (Verkauf, Verwaltung, Gastgewerbe, N=7) eine Rolle. In weiblich dominierten Branchen (Gesundheit und Soziales, N=2) dagegen ist es weniger wichtig.

Diese «Autochthonie» kennzeichnet sich durch starke soziale Bindungen, etwa Verwandtschafts-/Nachbarschaftsbeziehungen, geografische Nähe (Quartier, Gemeinde) oder Engagement für eine örtliche Institution (Verein, Kirche usw.). In der lokalen Verankerung sehen die für die Rekrutierung zuständigen Personen Gemeinsamkeiten, die sich aus der primären Sozialisation (Familie oder Schule) und der sekundären Sozialisation (Teilnahme an Vereinen) ergeben und die auf geteilte Werte schliessen lassen. So geben denn auch einige Betriebe an, sie hätten bei der Lehrstellenvergabe das Kind von Bekannten oder von Kunden berücksichtigt:

«[…] wir erkundigen uns bei Kolleginnen und Kollegen, „Du, die Enkeltochter von Familie Beuchat[1] aus Glovelier[2], kennst du sie?“.“Ja, ich kenne ihre Eltern.“ […] Und dann führt eins zum anderen: „Ja, ich kenne sie, sie wäre bestimmt eine gute Wahl […]“. Nicht selten kommt man so „durch die Hintertüre“ zu Informationen.» (Emilie[3], HR-Assistentin und Berufsbildnerin bei einer Grossbank).

Viele bevorzugen es, eine lernende Person einzustellen, die sie bereits «kennen», wenn auch nur indirekt. Sind dem Betrieb die Eltern bekannt, gibt es bereits ein wenig «Garantie», etwa wenn es gilt, ein Netzwerk zu mobilisieren oder an Informationen zu kommen.

Die geografische Nähe spielt auch im Auswahlverfahren eine wichtige Rolle und erleichtert Jugendlichen mitunter die Lehrstellensuche:

«Die geografische Nähe erweist sich wirklich als hilfreich» (Jérôme, Landwirt und Berufsbildungsverantwortlicher in einem Grossbetrieb der Nahrungsmittelindustrie).

Im Fall der geografischen Nähe können Lehrbetriebe auch davon auszugehen, dass die kurze Anreise zum Lehrbetrieb den Übergang Schule-Arbeitswelt vereinfacht, da Lernende aufgrund der begrenzten Reisetätigkeit weniger müde sind, eher pünktlich erscheinen und sich an die Arbeitszeiten halten. Der Lehrbetrieb kann sich so einer höheren Flexibilität und Leistungsbereitschaft der lernenden Person eher sicher sein.

Neben der geografischen Nähe kann auch das Engagement für einen lokalen Verein ein entscheidendes Kriterium sein:

«In einem anderen Fall war es ein Kosovare aus dem Quartier, er war häufig im Quartierzentrum anzutreffen[4] […]. Zudem war er seit seinem 13. Lebensjahr mehrmals bei uns, arbeitete jeweils drei Wochen lang bei uns. Wir haben ihn quasi aufwachsen sehen. Und als wir dann vor der Frage standen, welchen Lernenden wir einstellen, fiel unsere Wahl klar auf Mergim[5][…]. In dieser Hinsicht denke ich sehr lokal. Ich wohne in La Croix-sur-Lutryl[6], ich habe einen, der wohnt auch dort, einen anderen aus Lutry, einen, der an der Route de la Corniche wohnt und einen aus Savuit […]. Wenn also einer bei den Kadetten[7] von Savuit ist oder der Kirchgemeinde von Savuit angehört, dann stehen die Chancen, dass ich ihn nehme, bei 90 Prozent! […] Ich hatte einen Lernenden, der war Pfadileiter in Savuit […]. Er war zwar nicht der beste, aber entscheidend war für mich, dass er sich an seinen freien Samstagnachmittagen für Jüngere engagierte […]». (André, Elektromonteur und Berufsbildner in einem kleinen Baubetrieb).

«Ich hatte einen Lernenden, der war Pfadileiter in Savuit […]. Er war zwar nicht der beste, aber entscheidend war für mich, dass er sich an seinen freien Samstagnachmittagen für Jüngere engagierte.»

Im ersten Teil des Gesprächsauszugs bezieht sich das autochthone Kapital auf die Zugehörigkeit zu einem Quartier und das Engagement im Quartierzentrum. Ein weiterer ausschlaggebender Punkt ist die geografische Nähe, die dem Jugendlichen mehrere Arbeitseinsätze im Betrieb bereits in jungem Alter ermöglichte. Entscheidend war hier, dass der Jugendliche im Betrieb bekannt war, davon zeugt die Aussage «wir sahen ihn quasi aufwachsen». Diese Tatsache spielte Mergim in die Hände, zumal er aufgrund seiner kosovarischen Herkunft möglicherweise diskriminiert worden wäre (Imdorf 2018).

Im zweiten Teil des Gesprächsauszugs wird das Engagement für das Vereinsleben (Kadetten, Kirchgemeinde) hervorgehoben, das zu einem entscheidenden Auswahlkriterium wurde – wichtiger als die schulischen Leistungen («Er war nicht unbedingt der beste …»). Daraus lässt sich schliessen, dass das autochthone Kapital soziale Merkmale und/oder schulische Schwächen, die sich oft negativ auf die Lehrstellensuche auswirken, auszugleichen vermag. Der Arbeitgeber, der sich in der Lokalpolitik engagiert, und seine Lernenden vertreten gemeinsame Werte (Vereinsengagement, Zugehörigkeit zu einem Wertesystem einer Religionsgemeinschaft oder zu einem Juniorenverein usw.), aus denen er eine gute Zusammenarbeit im Rahmen künftiger beruflicher Beziehungen ableitet.

Das autochthone Kapital drängt mitunter auch andere Kriterien in den Hintergrund, etwa dann, wenn es um Loyalitätspflicht oder um Gefälligkeiten geht:

«Wenn es der Sohn eines Kunden ist, der Sohn von jemandem aus dem Dorf, dann fühlt man sich manchmal schon verpflichtet … Wir leben ja nicht in der Stadt […], hier läuft das schon ein bisschen anders.» (Christian, Automechaniker und Berufsbildner in einer kleinen Garage).

«Es kam ein Mädchen zu uns … Ein Bekannter hat mich gefragt, ob ich ihr helfen könnte […]. Ich habe sie eingestellt, obwohl die Bewerbungsfrist abgelaufen war. […] Ich habe alles dafür getan, damit das Mädchen die Lehrstelle bekam, und sie bekam sie dann auch.» (Roberto, Detailhändler und Berufsbildner bei einem Grossverteiler).

«Der Sohn eines Kunden», «der Sohn von jemandem aus dem Dorf», «ein Bekannter»: Das autochthone Kapital macht deutlich, welche wichtige Rolle insbesondere das informelle Beziehungsnetz beim Zugang zum Lehrstellen- und Arbeitsmarkt spielt (Imdorf 2018; Lamamra, Jordan & Duc 2013). Doch das autochthone Kapital eröffnet nicht nur Chancen; die sozialen Bindungen und die geografische Nähe können auch Verbindlichkeiten schaffen. Gerade in ländlichen Gebieten resultieren für kleine Betriebe (Gesprächsauszug 1) aus den Beziehungsgeflechten Verpflichtungen, denen sie sich nicht entziehen können.

Schlussfolgerungen

Das autochthone Kapital birgt zwar Chancen, doch es gibt auch Grauzonen, etwa dann, wenn sich Betriebe mehr oder weniger gezwungen fühlen, eine bestimmte Person einzustellen.

In fast einem Drittel unserer Fälle birgt das autochthone Kapital die Chance, Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu integrieren, die beim Rückgriff auf die üblicherweise verwendeten Kriterien ausgeschlossen worden wären. Das autochthone Kapital kann daher durchaus als Alternative betrachtet werden und eröffnet Chancen für Jugendliche, die beim Zugang zum Lehrstellenmarkt oft diskriminiert werden. Wir betrachten die Hypothese damit als bestätigt.

Als weitere Hypothese liesse sich formulieren, dass die gemeinsamen Werte und das Vertrauensverhältnis, das sich daraus ergibt, die pädagogischen Beziehungen begünstigen und die Gefahr eines vorzeitigen Lehrabbruchs verringern, weil der Dialog zwischen der lernenden Person und der Person, die sie eingestellt hat, aber auch der Dialog zwischen dem Betrieb und dem Beziehungsnetz der Jugendlichen, sichergestellt ist.

Allerdings greifen die Unternehmen in erster Linie zwecks Rekrutierung und Risikominderung auf das autochthone Kapital zurück. Es birgt zwar Chancen, doch es gibt auch Grauzonen, etwa dann, wenn sich Betriebe wie oben erwähnt mehr oder weniger gezwungen fühlen, eine bestimmte Person einzustellen. Ebenso problematisch sind die soziale Kontrolle und der Ausschluss bestimmter Profile, insbesondere von Frauen.

[1] Name frei erfunden.
[2] Die Orte wurden zwecks Wahrung der Anonymität geändert, es geht hier lediglich darum, die Wirkungsweise der geografischen Nähe darzustellen.
[3] Für alle befragten Personen wurde ein Pseudonym verwendet.
[4] In der Schweiz handelt es sich um einen Treffpunkt für alle Altersgruppen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene).
[5] Vorname frei erfunden
[6] Die Orte wurden zwecks Wahrung der Anonymität geändert, es geht darum, die Wirkungsweise der geografischen Nähe darzustellen. Die erwähnten Orte gehören alle zu einer ländlichen Region, die eng miteinander verbunden ist und vom Wohnort des Arbeitgebers bis zu seinem Arbeitsort reicht.
[7] Die Pfadibewegung Schweiz gehört der weltweiten christlichen Jugendbewegung (Young Men’s Christian Association YMCA) an.
[8] Je nach Alter werden die Mitglieder einem anderen Pfadiprofil zugeteilt.

Literatur

  • Duc, B. & Lamamra, N. (2021). Discours et pratiques autour du recrutement des apprenti-e-s en Suisse : entre soumission à l’ordre social et pratiques alternatives. Céreq Echanges, 16, 191-202.
  • Imdorf, C. (2018). Sélection, discrimination et reproduction sociale par les entreprises formatrices. In J.-L. Berger, N. Lamamra & L. Bonoli (Hrsg.), Enjeux de la formation professionnelle suisse. Le ‘modèle’ suisse sous la loupe (S. 181-198). Seismo: Zürich.
  • Lamamra, N., Duc, B. & Besozzi, R. (2019). Im Herzen der dualen Berufsbildung: Berufsbildnerinnen und Berufsbildner Forschungsbericht. EHB: Renens
  • Lamamra, N., Jordan, M. & Duc, B. (2013). The Factors Facilitating School-to-Work Transition: The Role of Social Ties. A Longitudinal Qualitative Perspective. In J. Seifried & E. Wuttke (Ed), Transitions in Vocational Education (pp. 123-140). Budrich publisher: Opladen, Berlin, Farmington Hills.
  • Renahy, N. (2010). Les gars du coin. Enquête sur une jeunesse rurale. La Découverte : Paris.
  • Ruiz, G. & Goastellec, G. (2016). Entre trouver et se trouver une place d’apprentissage : quand la différence se joue dans la personnalisation du processus. Formation Emploi, 133, 121-138.
Zitiervorschlag

Lamamra, N., & Duc, B. (2021). Dank Beziehungen zur Lehrstelle. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(3).

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