Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Thesen und Reflexionen

Digitale Möglichkeiten in der Berufsbildung

Auszubildende haben oft keine Gelegenheit, ihr Schulwissen am Arbeitsplatz anzuwenden oder umgekehrt ihre praktischen Erfahrungen in der Schule einzubringen. Digitale Technologien können helfen, diesen «Skills Gap» zu verkleinern: Sie können die Zusammenarbeit der schulischen und betrieblichen beruflichen Grundbildung verbessern. Am Lausanner Leading House Berufsbildung erforscht man im Rahmen des Projektes «Dual-T» Möglichkeiten dafür. So können auf der Plattform «Realto» Fotos aus dem Berufsalltag abgelegt und für den Unterricht nutzbar gemacht werden.


Wie wird die Schweizer Wirtschaft im Jahr 2030 aussehen? Welche Veränderungen wird die digitale Revolution durch die Robotertechnik, die künstliche Intelligenz, durch «Data Sciences» usw. in unseren Betrieben bis dann hervorgerufen haben? Die Optimistischeren unter uns rufen in Erinnerung, dass die bisherigen industriellen Revolutionen den Arbeitsmarkt zwar grundlegend umgestaltet, aber nicht vernichtet haben. Die Pessimisten betonen, die derzeitige Revolution unterscheide sich von den vorherigen nicht nur durch die Anzahl der in Frage gestellten Arbeitsplätze. Vielmehr werde die künstliche Intelligenz darüber hinaus bestimmte Berufe obsolet machen, die bislang als qualifizierte Tätigkeiten galten.

Unser Berufsbildungssystem hat im digitalen Bereich grossen Nachholbedarf.

Ich masse mir nicht an, einem der beiden Lager Recht zu geben. Wir können die Zukunft nicht vorhersehen, müssen aber eine dringende Frage beantworten: Welche Anpassungen müssen wir an der Berufsbildung vornehmen, damit unsere – jungen und weniger jungen – Bürgerinnen und Bürger morgen bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz haben, in dem sie sich entfalten können?

Diese Frage gliedert sich in mehrere Teilfragen. Haben unsere Betriebe – das Herzstück der Berufsbildung – die digitale Transformation bereits vollzogen? Die Antwort ist von einem Unternehmen zum anderen sehr unterschiedlich, doch jene, in denen dies noch nicht geschehen ist, werden wahrscheinlich verschwinden. Haben die Hilfsmittel der digitalen Welt schon Einzug in die Berufsfachschulen gehalten? Noch kaum. Diese Antwort erscheint hart, aber man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Schulen stark im Verzug sind. Gewiss sind vielversprechende Ansätze zu beobachten; aber sie sind oft auf die lokale Ebene beschränkt und auf persönliche Initiativen zurückzuführen. Sprechen wir es offen aus: Unser Berufsbildungssystem hat im digitalen Bereich grossen Nachholbedarf.

Wir haben ein Augmented-Reality-Tool für den Statikunterricht von Zimmerleuten entwickelt, das es ermöglicht, die Ausbreitung der Kräfte in den Balken eines Dachstuhls intuitiv, ohne mathematische Formeln, zu verstehen.

Die Verbindung zwischen der Berufsbildung und der digitalen Welt besteht aus zwei Strängen – nennen wir sie «blau» und «rot». Der blaue Strang nutzt das Digitale zur Lernunterstützung: Online-Kurse, E-Learning, Simulationen, Wikipedia usw. Im roten Strang geht es um die Vermittlung der für den Beruf notwendigen digitalen Kompetenzen in der Schule, wie zum Beispiel die Beherrschung von 3D-Planungstools oder Projektmanagementtools und natürlich um das Programmieren. Es handelt sich durchaus um zwei unterschiedliche Stränge. Sie sollten nicht verwechselt werden, auch wenn ich aufzeigen möchte, dass sie so eng miteinander verflochten sind wie die Stränge eines Seils.

Beginnen wir mit dem roten Strang. Er betrifft die Verbindung zwischen Schule und Betrieb, ein Kernelement unserer dualen Berufsbildung. Dieses System basiert auf einem starken Zusammenhalt zwischen Schule und Betrieb; zudem impliziert der Begriff «dual», dass Unterschiede zwischen den Bildungspartnern existieren. Wenn die Schule vollkommen identisch mit dem Betrieb wäre, würde es sich nicht mehr um ein duales System handeln. Eine Aufgabe der Berufsschule besteht darin, das zu vermitteln, was das Unternehmen nicht vermitteln kann. Nehmen wir ein Beispiel aus unseren Erfahrungen im Rahmen des vom SBFI finanzierten Leading House «DUAL-T: Technologies for Vocational Education». Wir haben festgestellt, dass ein Logistiker von seinem Chef nur sehr selten in die Organisation des Lagers einbezogen wird. Der Logistiker muss vor allem effizient arbeiten. In der Schule wird er mit den Grundprinzipien der Logistik vertraut gemacht; dies vermittelt ihm ein besseres Verständnis für seinen Beruf – etwas, wofür der Chef keine Zeit hat. Diese Kompetenzen eröffnen der lernenden Person berufliche Perspektiven, die über die Lehre hinausgehen. Anders ausgedrückt: Wenn von der Verbindung zwischen der Schule und dem Betrieb die Rede ist, geht es nicht darum, die Unterschiede zwischen diesen Institutionen zu verwischen, sondern Lösungen – insbesondere digitale – zu entwickeln, die diese Unterschiede zur Bereicherung der Berufsbildung nutzen. Um weiter beim Beispiel Logistik zu bleiben: Wenn die in der Schule vermittelten Kompetenzen nicht direkt am Arbeitsplatz anwendbar sind, werden die Lernenden nicht viel Sinn darin sehen, so wenig wie in anderen Dingen, die die Schule ihnen aufzwingt. Um diese beiden Welten miteinander zu verbinden, haben wir eine Lagersimulation entwickelt: Die Lernenden bauen auf ihrem Tisch ein Miniatur-Lager mit Plastikregalen, und ein Augmented-Reality-Tool erweckt dieses Lager zum Leben. Diese Darstellung eines Lagers ist konkret genug, damit sie es mit dem Lager, in dem sie arbeiten, in Verbindung bringen, und abstrakt genug, um ihnen die Grundprinzipien der Logistik verständlich zu machen.

Nehmen wir ein zweites Beispiel, diesmal im Bauwesen. Wir haben ein Augmented-Reality-Tool für den Statikunterricht von Zimmerleuten entwickelt, das es ermöglicht, die Ausbreitung der Kräfte in den Balken eines Dachstuhls intuitiv, ohne mathematische Formeln, zu verstehen. Das Tool basiert auf einer Fotografie des Dachstuhls, der sich auf der Baustelle befindet, auf welcher der Lernende arbeitet. Ja, es existieren Unterschiede zwischen dem, was man in der Schule tun kann, und dem, was im Betrieb möglich ist. Identifizieren und nutzen wir sie!

Die erwähnten digitalen Umgebungen sind Lehrmittel, die zum blauen Strang gehören. Sie tragen aber auch zur Entwicklung der zum roten Strang gehörenden digitalen Kompetenzen der Lernenden bei. Die Stränge sind miteinander verflochten. Wenn ein Instrument die Verbindung zwischen Schule und Betrieb stärkt, ist es gleichzeitig ein Lehrmittel und ein Vektor für neue digitale Kompetenzen. Ebenfalls für die Ausbildung von Zimmerleuten haben wir ein Augmented-Reality-Tool entwickelt, das es ermöglicht, mit den drei Orthogonalprojektionen eines physischen Objekts zu interagieren. Diese Umgebung fördert die Fähigkeit der Lernenden, sich dreidimensionale Objekte anhand von zweidimensionalen Ansichten vorzustellen und gehört daher zum blauen Strang. Sie erleichtert jedoch auch den Einzug von Denkweisen in die Schule, die für CAD-Tools unerlässlich sind, wie z.B. die räumliche Rotation. Sie gehört somit auch zum roten Strang.

Die Schule muss einen Beitrag an den digitalen Wandel leisten. So wird zum Beispiel der 3D-Druck zahlreiche Berufe verändern, nicht nur in der Maschinenfertigung, sondern auch in der Patisserie oder im Bau.

Es genügt nicht, dass sich die Schule an den digitalen Wandel anpasst, der in den Betrieben stattfindet – sie soll auch einen Beitrag dazu leisten. So wird zum Beispiel der 3D-Druck zahlreiche Berufe verändern, nicht nur in der Maschinenfertigung, sondern auch in der Patisserie, im Bau usw. Kommen wir zu den Zimmerleuten zurück: Es geht nicht darum, den Umgang mit einer konkreten Software zu lehren; die Betriebe verwenden den 3D-Druck ja noch nicht. Vielmehr geht es darum, eine neue Logik zu vermitteln: Die Zimmerleute lernen, von einem subtraktiven Ansatz (am Anfang ist ein Baum, aus dem Bretter gewonnen werden, die dann zugeschnitten werden) zu einer additiven Logik (Holz-«Pixel» werden zusammengefügt) überzugehen, von einem auf dem Zusammenbauen von Strukturen (Balken, Fugen usw.) basierenden Denken zum Verbinden von elementaren Komponenten. Wenn die Schule diese neuen, zeitgemässen Herangehensweisen an den Beruf unterrichteten, würden sie die Lernenden darauf vorbereiten, sich rasch anzupassen, wenn diese digitalen Verfahren ihre berufliche Welt erschüttern.

Mit der Plattform «Realto» wollten wir eine digitale Brücke zwischen Schule und Betrieb bauen. Das Prinzip ist einfach: Es geht darum, die beruflichen Erfahrungen in digitaler Form zu erfassen und diese digitalen Spuren in der Klasse zu nutzen. Typischerweise machen die Lernenden ein Foto oder ein Video von einem interessanten Gegenstand an ihrem Arbeitsplatz: ein zerbrochenes Motorbauteil, ein origineller Blumenstrauss, ein Haarschnitt, der ein kürzlich im Unterricht behandeltes Konzept veranschaulicht usw. Diese Fotos orientieren sich an den Themenvorgaben der Lehrkraft. Bei den von den Lernenden bereitgestellten Objekten kann es sich um die verschiedensten digitalen Spuren ihrer Arbeit handeln: Formulare, Kostenvoranschläge, Röntgenbilder, Rezepte, Pläne usw. Die Realto-Umgebung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Facebook: Die Lernenden können Objekte bearbeiten, kommentieren, «liken» oder mit (berufsspezifischen) «Tags» versehen. Sie können die Bilder bearbeiten, um interessante Elemente hervorzuheben. Realto bietet auch Funktionen für die Lehrkraft: Sie kann Bilder vergleichen und durch halbtransparente Darstellung übereinanderlegen oder eine Powerpoint-Präsentation mit den Bildern der Lernenden erstellen. Die Interaktionen sind auf die Klassenmitglieder, d.h. die Lehrkraft, die Lernenden und ihre Ausbildner, beschränkt. Die Plattform ermöglicht es auch, Material in ein digitales Bildungsdossier aufzunehmen, das früher oder später den als Bildungsdossier dienenden Ordner ersetzen wird.

Gehört Realto zum blauen oder zum roten Strang? Zu beiden. Als Lehrmittel (blau) bereichert es den Unterricht durch die Erfahrungen der Lernenden an ihrem Arbeitsplatz. Es gehört aber auch zum roten Strang: Das systematische Erfassen von beruflichen Elementen in digitaler Form ist eine Kompetenz. Was wir «Erfahrung» nennen, war immer eine Gedächtnisspur, heute ist es auch eine digitale Substanz. Die digitale Kompetenz besteht nicht darin, auf den «Foto»-Knopf seines Smartphones zu drücken, sondern zu erkennen, was in dem jeweiligen Beruf ein interessantes Objekt oder Ereignis ist. Dies hängt mit dem Verständnis vom Beruf zusammen.

Wie passt sich die Berufsbildung an die Weiterentwicklung der Berufe an? Einerseits haben die meisten Lehrkräfte Kontakte zu Berufsleuten, und auch die überbetrieblichen Berufsbildungszentren haben einen Fuss in der Praxis. Diese informelle Anpassung hat den Vorteil, dass sie kontinuierlich ist; ihre Qualität ist jedoch von einer Branche zur anderen schwankend. Andererseits sieht das Gesetz vor, dass die Bildungsverordnungen alle fünf Jahre überprüft werden müssen. Dieser Rhythmus setzt alle Betroffenen gehörig unter Druck. Und dennoch ist dies viel zu langsam. Die heutige Wirtschaft ändert sich nicht alle fünf Jahre, sondern viel schneller. Vor fünf Jahren hat noch niemand etwas von «Blockchains» oder von elektrischen Anschlüssen gehört, die sich an Angebot und Nachfrage anpassen. Bei der Weiterentwicklung der Berufsbildung sollte man sich von den Instrumenten der digitalen Epidemiologie inspirieren lassen, die in Echtzeit die Ausbreitung von Epidemien verfolgen, indem sie den Austausch im Internet beobachten (z.B. Fragen in Foren, Onlinekäufe usw.).

Wir arbeiten an auf künstlicher Intelligenz basierenden Verfahren, die automatisch neue Bedürfnisse im Bereich der Berufsbildung aufspüren, indem sie die Stellenangebote, die gestellten Fragen, die neuen Normen und Regeln usw. analysieren.

Wir arbeiten an auf künstlicher Intelligenz basierenden Verfahren, die automatisch neue Bedürfnisse im Bereich der Berufsbildung aufspüren, indem sie die Stellenangebote, die gestellten Fragen, die neuen Normen und Regeln usw. analysieren. Gehört das zum roten oder zum blauen Strang? Weder zum einen noch zum anderen. Es handelt sich um einen dritten Strang – den gelben –, der darin besteht, das Digitale zu nutzen, um unser Bildungssystem zu regeln. Ein anderes Beispiel besteht darin, Verfahren wie «Learning Analytics» zu nutzen, um die Laufbahn eines Lernenden vorauszusagen. Heute können wir voraussagen, wer einen Online-Kurs (Mooc) abbrechen wird – ein Ereignis, das ohne Folge bleibt. Zur Voraussage eines Lehrabbruchs, der im Allgemeinen ein erhebliches persönliches Trauma darstellt, wird von Voraussagen jedoch noch nicht systematisch Gebrauch gemacht. Der dritte Strang besteht darin, die den «Data Sciences» eigene Denkweise in das Management der Berufsbildung zu integrieren.

Ich habe stets mit Zurückhaltung über die Auswirkungen der Bildungstechnologien auf die Lehre (roter Strang) gesprochen: Unsere empirischen Forschungsarbeiten zwingen uns zur Bescheidenheit. Oft erzielen wir positive Ergebnisse in einer Klasse oder einer Schule, ihre allgemeine Anwendung ist jedoch schwierig. Kein digitales Hilfsmittel kann Wunder im Bildungsbereich wirken. Die Einführung der verschiedenen Technologien in die Berufsbildung erfolgte daher bisher vorsichtig und mit zurückhaltendem Tempo. Aber wir dürfen uns heute nicht nur damit begnügen, an einem der Stränge zu ziehen. Nur mit allen drei Strängen gemeinsam wird eine radikale Beschleunigung der digitalen Transformation des Bildungssystems gelingen. Die Welt der Berufsbildung besteht aus vielen miteinander verwobenen Netzen: Lehrkräfte, Arbeitgebende, Berufsverbände, Schulen, Kantone, Akteure auf Bundesebene, Lernende, ihre Eltern usw. Sind die digitalen Technologien nicht prädestiniert, diese Netze miteinander zu verbinden?

Zitiervorschlag

Dillenbourg, P. (2017). Digitale Möglichkeiten in der Berufsbildung. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(2).

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