Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Werdegänge und Lebenswelten von «gefährdeten» Jugendlichen in der Berufsbildung

Einfach nicht stromlinienförmig

Es gibt Jugendliche, die sich während der Berufswahl unvernünftig verhalten. Sie bleiben passiv oder hängen Berufen nach, deren Ansprüchen sie kaum genügen werden. Ardi, Bruno und Blerim sind Beispiele. Sie sind drei von 36 Jugendlichen, die in der vorliegenden Fallstudie Auskunft über ihr Leben und Handeln gegeben haben – Jugendliche, die aufgrund soziodemographischer und struktureller Zuschreibungen als gefährdet gelten. Dabei zeigt sich, dass ihr Verhalten durchaus Sinn macht: Indem sie sich widersetzen, gewinnen sie das Gefühl zurück, trotz ungünstiger Prognosen Herr ihrer Biografie zu sein. Für Beratungspersonen oder pädagogisch Verantwortliche ergibt sich dadurch die anspruchsvolle Aufgabe, unpassendes Betragen zu sanktionieren und dennoch mit statt gegen die Jugendlichen zu arbeiten.


Das Schweizer Berufsbildungssystem gilt international als Erfolg. Dennoch ist die Teilnahme an diesem Modell für eine nicht unbedeutende Anzahl der in der Schweiz lebenden Jugendlichen nicht selbstverständlich. So ist jeder vierten beruflichen Grundbildung eine ein- bis zweijährige Übergangsbildung oder -massnahme vorgelagert (Preite, 2019). Ebenso ist die Zahl der Lehrvertragsauflösungen hoch und bietet ein Lehrabschluss heute zum Teil keine Garantie mehr für eine sichere Erwerbsbiographie (Meyer & Sacchi, 2020). Wenn die Schweizer Transitionsforschung nach den Gründen für verzögerte oder abgebrochene Bildungs- und Berufsverläufe fragt, beachtet sie die Sicht der direkt betroffenen Jugendlichen meist nicht. Demgegenüber untersucht die vorliegende Dissertation aus einer subjektorientierten Perspektive Werdegänge und Lebenswelten von Jugendlichen, die im Hinblick auf ihre Berufsintegration als gefährdet gelten. Gefragt wird, wie diese Jugendlichen ihren Werdegang und ihre Lebenswelt wider diese Progose gestalten und aufrechterhalten.

Individuensoziologische Fallstudien

Die empirische Datengrundlage bilden Gespräche mit 36 Jugendlichen und Beobachtungen ihrer Handlungen in Ausbildung, Erwerb und Freizeit. Gemeinsam ist diesen Jugendlichen die Erfahrung des Besuchs einer Übergangsbildung oder -massnahme (Brückenangebot, Motivationssemester, Praktikum, Vorlehre). Zudem gelten sie als gefährdet: So prognostiziert ihnen die Transitionsforschung aufgrund soziodemographischer und struktureller Zuschreibungen eine erschwerte Laufbahn (z.B. Migrationshintergrund, tiefer Sozialstatus der Eltern, Schulniveau der Sekundarstufe I). Ausgewertet wurden die ethnographischen Daten in Form eines individuensoziologischen Fallstudienansatzes(Bourdieu, 1997). Die Perspektiven und Geschichten der untersuchten Jugendlichen stehen dabei nicht stellvertretend für die Gesamtheit aller gefährdeten Jugendlichen. Dennoch lässt sich, so die Hypothese, am Beispiel dieser Einzelfallgeschichte in theoretischer und empirischer Hinsicht über Prozesse und Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen nachdenken (Wiezorek, 2011). Die Ergebnisse mündeten in eine kumulative Dissertation, die in vier peer-reviewed Zeitschriftenartikeln publiziert wurden (Preite, 2016, 2018, 2019; Preite & Steinberg, 2019). Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen.

Berufswahl als abstraktes Konstrukt

Erstens fällt auf, wie konstituierend die Prognose einer gefährdeten Berufsintegration für die Werdegänge und Lebenswelten dieser Jugendlichen ist.

Erstens fällt auf, wie konstituierend die Prognose einer gefährdeten Berufsintegration für die Werdegänge und Lebenswelten dieser Jugendlichen ist. Neben den in der Forschung gut belegten ungleichen Bildungschancen (Meyer & Sacchi, 2020) scheint eine Ungleichheitssemantik (Wiezorek, 2009, S. 181) mitzuwirken. So verfügen diese Jugendlichen nicht nur über eine geringere Wahrscheinlichkeit, beruflich ausgebildet zu werden. Darüber hinaus sehen sie sich mit Lehrpersonen, Berufsberatungen, Case Managerinnen oder Bildungsexperten konfrontiert, die grundsätzlich an ihrer Ausbildungsreife zweifeln. Ungleiche Voraussetzungen verkommen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen – und so gelten diese Jugendlichen in der Beratungspraxis als unentschlossen, ihre Berufsvorstellungen als diffus und ihre Eltern als überfordert (Preite & Steinberg, 2019).

All dies hinterlässt – zweitens – Spuren. Die Berufswahl wird für die befragten Jugendlichen zum abstrakten Konstrukt, etwas, das sie nicht betrifft oder nicht für sie gedacht ist. Für sie ist fraglich, wie sich überhaupt auf einen Berufswahlprozess einlassen sollen. Dazu kommt, dass bildungspolitisch nach wie vor von einem Lehrstellenüberhang ausgegangen wird (SKBF, 2018); unhinterfragt ist aber, wie verfügbar diese Lehrstellen für gefährdete Jugendliche tatsächlich sind – Lehrstellen etwa, die von Betrieben zwar ausgeschrieben, aber mangels einer «geeigneten Bewerberlage» nicht vergeben werden (vgl. Nahstellenbarometer 2020). Und was bedeutet es für gefährdete Jugendliche, trotz Berichten über «offene» Lehrstellen ständig Bewerbungsabsagen zu erhalten? Vor diesem Hintergrund versucht eine subjektorientierte Transitionsforschung verständlich zu machen, weshalb sich manche Jugendlichen in der Beratungspraxis quer stellen, indem sie etwa dem berufsbildenden Weg lebensweltliche Werdegänge (z.B. Internet-Karriere) vorziehen (Preite, 2016, 2018) oder Dinge machen, die einer gelingenden Berufswahl zuwider läuft.

Die lebensweltliche Erhaltung von Handlungsfähigkeit im Übergangsregime

Sich zu widersetzen ist das, was ihnen bleibt, um ihren Weg allen Prognosen zum Trotz selber mitzugestalten. Dies ist die Pointe des Verhaltens vieler der 36 untersuchten Jugendlichen. Sie lässt sich an den Geschichten von Ardi, Bruno und Blerim exemplarisch nachzeichnen (Preite, 2019). Aus unterschiedlichen Niveaus und Schulstufen kommend – Ardi besuchte die Sekundarstufe I mit Grundansprüchen, Bruno das mittlere Niveau und Blerim die Fachmittelschule auf der Sekundarstufe II – befinden sich diese drei Jugendlichen in einer Übergangsbildung. Während Ardi (im Widerspruch zu seiner Lehrperson und der Berufsberatung) ein Fähigkeitszeugnis (EFZ) anstelle einer Attestausbildung (EBA) anstrebt, ist für Bruno klar, dass er Schreiner und nichts anderes lernen will. Blerim strebt nach wie vor eine gestalterische Ausbildung an, die er in der Fachmittelschule mit Schwerpunkt Gestaltung zwar begonnen hatte, aufgrund der verfehlten Promotion aber abbrechen musste.

Es erstaunt, mit welcher Vehemenz die drei Jugendlichen an ihren Berufswünschen festhalten und sich weigern, ihre Aspirationen aufzugeben.

Es erstaunt, mit welcher Vehemenz die drei Jugendlichen an ihren Berufswünschen festhalten und sich weigern, ihre Aspirationen aufzugeben.

Ardi bewirbt sich im ersten Trimester des Übergangsjahrs ausserhalb der Schulzeit für alle offenen EFZ-Lehrstellen im Umkreis seines Wohnortes. Mit dieser entgrenzten und entpersonalisierten Bewerbungspraktik gelingt es Ardi nicht nur, eine Lehrstelle als Detailhandelsfachmann zu erlangen; er entzieht sich auch der Kontrolle seiner Lehrperson. Ähnlich widersetzt sich auch Bruno den Umlenkungsversuchen Dritter, indem er zwischen Bewerbungen unterscheidet, die ihm wichtig sind, und solchen, die er nur der Lehrperson zuliebe erstellt. Diese hat ihn ab dem zweiten Trimester verpflichtet, pro Woche mindestens fünf Bewerbungen einzureichen, was ihn zwingt, andere Berufe als Schreiner in Betracht zu ziehen. Aber Bruno widersetzt sich dieser Verpflichtung, indem er die Qualität seiner Bewerbungsschreiben anpasst: «Ich habe einfach die Adresse kopiert, eingefügt und meine Bewerbung abgesendet. So ist es schon klar, dass man nichts findet» (Preite, 2019, S. 393). Letztlich gelingt es Bruno, seinen Berufswunsch zu verwirklichen. Er einigt sich mit seinem Wunschbetrieb und kann im Anschluss an das Übergangsjahr eine Lehre als Schreiner beginnen.

Während sich die Widersetzungspraktiken von Ardi und Bruno in Anlehnung an den Soziologen Erwing Goffman (2006, S. 194) als gemässigte sekundäre Anpassung deuten lassen – als Anpassung also, die sich der Intention der Institution unter Vermeidung einer offenen Konfrontation entziehen –, spitzt sich die Situation bei Blerim zu, je länger das Übergangsjahr dauert. Die Lehrperson besteht nun darauf, dass er sich für eine industrielle Lehrstelle als Konstrukteur bewirbt (anstelle der gestalterischen Berufe). Für Blerim kommt diese Umorientierung nicht in Frage. Er weigert sich nun, jegliche schulische Leistung zu erbringen, die seiner Meinung nach nicht in Zusammenhang mit der Lehrstellensuche steht. Dieses Verhalten trägt er in der Schule demonstrativ zu Schau. Im Sinne einer zerstörerischen sekundären Anpassung (Goffman, 2006, S. 194) ist sich Blerim durchaus im Klaren, was er mit seiner Verhalten bezweckt. Die Lehrperson ist nun aufgefordert zu reagieren: Sanktioniert oder toleriert sie sein Verhalten? Letztlich greift die Lehrperson zur stärksten Sanktion, die ihr zu Verfügung steht: Sie spricht zusammen mit der Schulleitung einen Verweis aus; nach zwei Verweisen droht der Schulausschluss. Nun fügt sich Blerim und bewirbt sich als Konstrukteur. Aber obwohl er im «Kampf um die realistische Berufsperspektive» (Walther, 2014, S. 123) der Lehrperson unterlegen ist, hat er mit seinem Verhalten lebensweltliche Handlungsfähigkeit bewiesen – und darum geht hier. Denn für seine Peers ist klar, wie die Umorientierung zustande kam: Es war nicht Blerim, sondern die Lehrperson, die ihn dazu gezwungen hat, Konstrukteur zu werden. Für Blerim ist diese Nuance bedeutsam. Im Anschluss an das Übergangsjahr beginnt er eine Lehre als Konstrukteur – im Wissen, dass er diesen Beruf und diese Lehre möglichst schnell auch wieder verlassen wird.

Fazit und Diskussion

Gefährdete Jugendliche sind sich ihrer Ausgangslage auf dem Lehrstellenmarkt bewusst, wie aktuelle Studien belegen (Kriesi & Basler, 2020; Meyer und Sacchi, 2020). Sie wissen über die Grenzen ihrer Wahlmöglichkeiten Bescheid; sie haben verstanden, welche Laufbahnen für sie realistisch sind. In einer pädagogischen Perspektive stellt sich die Frage, ob und in welchem Masse in Beratungen Druck auf sie auszuüben ist, sich diesen Grenzen zu beugen. Der Lehrstellenmarkt funktioniert für gefährdete Jugendliche nur bedingt; für eine echte Berufswahl braucht es einen deutlichen Lehrstellenüberhang, der in einem arbeitsmarktorientierten Berufsbildungssystem von den Betrieben nicht erzwungen werden kann. Mit den nachrückenden, geburtenstarken Jahrgängen und den allerdings schwierig abzuschätzenden Folgen der Corona-Krise dürfte sich die Ausgangslage auf dem Lehrstellenmarkt eher verschlechtern. Für die pädagogische Praxis der Berufsorientierung lassen sich daraus zwei Schlüsse ziehen. Erstens ist insbesondere gefährdeten Jugendlichen reiner Wein einzuschenken. So ist es richtig, dass das Schweizer Bildungssystem durchlässig ist; aber dass davon alle profitieren würden, wäre eine unredliche Behauptung (Kost, 2018). Zweitens ist es unumgänglich, mit statt gegen die Jugendlichen zu arbeiten. Die Geschichten von Ardi, Bruno und Blerim zeigen, über welche lebensweltlichen Fähigkeiten Jugendliche verfügen können, wenn es darum geht, trotz widrigen Umständen und Prognosen eigenständig zu werden. Diese jugendliche Handlungsbefähigung gilt es zu anerkennen. Wie genau dies im Einzelnen ausschaut, ist fallspezifisch zu klären. Die Möglichkeit der Partizipation der Jugendlichen im Rahmen der Berufsorientierung ist aber eine entscheidende Grundvoraussetzung guten Gelingens.

Literatur

Zitiervorschlag

Preite, L. (2021). Einfach nicht stromlinienförmig. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 6(1).

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