Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Die Schweizer Berufsbildung kann im Ausland dazulernen

Mobilität ist eine Quelle von Innovation

Vor einigen Jahren sind Delegationen von Fachlehrpersonen des Berufsbildungszentrums IDM Thun mehrmals nach Vietnam gereist. Nicht, um zu zeigen, wie gut die Schweizer Berufsbildung ist. Sondern umgekehrt: um zu lernen, wie man Kleider in Serienproduktion industriell anfertigt. «Austausch ist eine Quelle der Innovation», sagt Ben Hüter, Direktor des BBZ IDM. Die nationale Förderagentur Movetia unterstützt solche Projekte finanziell.


Eigentlich sind sie etwas kitschig, diese Herzchen, Statuen, Plaketten. Aber zwischen den Büchern und Broschüren im Regal des Büros von Ben Hüter ist die Sammlung von Präsenten aus aller Welt ein Blickfang. Aus Südkorea zwei Figuren aus Jeiu, aus Bulgarien ein Buch über den Goldschatz von Letnitsa, aus Italien eine Skulptur mit Männern, die sich die Hand geben. Die Objekte stehen eng beieinander. Und alle sagen: Willkommen in der Welt jenseits des Gartenzauns.

Ben Hüter ist seit 2014 Direktor des Thuner Berufsbildungszentrums für Industrie, Dienstleistung und Modegestaltung (IDM). Vorher war der 54-Jährige, der ursprünglich Lithograf gelernt und ein Jus-Studium absolviert hat, einige Jahre an der Schule für Gestaltung Bern/Biel als Lehrer und Mitglied der Schulleitung tätig. Zu seinen Nebenjobs gehört eine Lehrtätigkeit in Führung und Innovation an der EHB. Die Objekte im Regal passen zu diesem Engagement. Sie sind Zeugnis für das Streben nach Innovation. Vor wenigen Tagen war eine Delegation aus Albanien in Thun zu Besuch, demnächst kommen Kubaner. Was sie wollen? Besser werden.

Was in Holland passierte, war ein Schock

«Wenn ich Leute empfange oder selber ins Ausland reise, lerne ich immer dazu», sagt Ben Hüter. Er bildet, zusammen mit Daniel Kehl und einigen weiteren Personen, eine Gruppe von Berufsfachschul-Rektoren in der Schweiz, die vom Wert internationaler Kontakte überzeugt sind. Sein Erweckungserlebnis hatte Ben Hüter durch eine Einladung aus Holland vor zwölf Jahren. Dieser sei er, erzählt er, in der Erwartung gefolgt, erklären zu müssen, wie das beste aller Berufsbildungssysteme funktioniere. Was tatsächlich passierte, sei ein Schock gewesen: «Ich sah, dass in Holland die berufliche Bildung viel stärker digitalisiert war, besonders in den gestalterischen Berufen. Während der Fokus der Schweizer Medienbranche noch ganz auf dem Druck lag, erlebte ich hier die Zukunft des Berufs.» Die Erkenntnis hatte Folgen: Ben Hüter wurde zum Impulsgeber der beruflichen Grundbildung Interactive Media Designer EFZ, die seit 2014 auch in der Schweiz angeboten wird.

Erinnerungen an Besuche aus der Welt jenseits des Gartenzauns. Photo: Daniel Fleischmann

«Wenn wir sagen, wir sind die besten, sind wir es bereits nicht mehr» – das ist die Essenz der Erfahrungen, die Ben Hüter seither im Austausch mit vielen Schulen im Ausland machte. «Natürlich haben wir eine gut strukturierte und leistungsfähige Berufsbildung», sagt er. «Trotzdem sind wir nicht überall die Innovativsten.» In Albanien gibt es an den Berufsschulen «Career Center», die die Jugendlichen unterstützen, in einem schwierigen Arbeitsmarkt unterzukommen. In Rotterdam findet man Berufsschulen, die grosse Lernräume anbieten; hier beschäftigen sich die Lernenden mit eigenen Projekten, jenseits von Klassenstrukturen, unterstützt von einem Team von Fachspezialisten. In San Sebastián gibt es Tknika, ein Ausbildungszentrum, das Innovation und angewandte Forschung direkt in der Berufsbildung verankert; so erhalten Lehrpersonen etwa Einblick in Anwendungen von Industrie 4.0. Und an der Jamk in Jyväskylä besteht Gelegenheit herauszufinden, warum man in Finnland keine Mühe hat, Frauen für technische Berufe zu gewinnen.

Das Know-How kehrt aus Vietnam zurück

In den Jahren 2019 und 2020 sind Delegationen aus Thun mehrfach nach Vietnam gereist. Das Ziel: herausfinden, wie Kleider industriell angefertigt werden. «Die Lernenden müssen künftig in der Lage sein, nicht nur Massanfertigungen herzustellen, sondern auch Kleinserien. Der Trend zu einer regional verankerten, nachhaltigen Modeproduktion verlangt nach solchen Kompetenzen», erklärt Ben Hüter. In der Schweiz seien sie grösstenteils verloren gegangen. In Vietnam aber habe das Thuner Team das Know-How erhalten, das man nun im «Nähwerk IDM», der textilen Lehrwerkstatt des BBZ IDM für Bekleidungsgestalterinnen EFZ und Bekleidungsnäher EBA, anbietet. Im Gegenzug zeigte man in Vietnam, wie am BBZ IDM handlungsorientiert unterrichtet wird.

Thema Internationalisierung an der SGAB-Tagung

Die SGAB führt am 7. September gemeinsam mit dem SVEB sowie den SwissSkills eine Tagung durch, an der «Mobilität und Internationalisierung in der Schweizer Berufsbildung» das Thema eines Workshops bilden. Er wird moderiert von Yvonne Jänchen, Programmkoordinatorin Berufsbildung bei Movetia und Ben Hüter, Direktor Berufsbildungszentrum für Industrie-Gewerbe, Dienstleistung und Modegestaltung Thun. Anmeldungen sind auf der Website der SGAB möglich.

Ben Hüter ist überzeugt, dass sich die Gesellschaft und die Berufe in Zukunft in noch wachsendem Tempo verändern werden. 65% der heutigen Schulanfängerinnen und -anfänger würden später in Berufen arbeiten, die noch gar nicht existieren, lautet eine Aussage aus «The Future of Jobs» des WEF von 2016. Schritt zu halten und innovativ zu sein sei eine zentrale Herausforderung der Berufsbildung. Eine wichtige Quelle dafür sei der Austausch innerhalb der Schweiz, aber auch mit ausländischen Partnern. Eine konkrete Umsetzung auf kantonaler Ebene findet die Idee in einem Projekt, das durch das BBZ IDM angestossen wurde. Seit 2022 betreibt der Kanton Bern das Innovationsförderungsprojekt, «digitale Unterrichtsinnovationen auf der Sekundarstufe II». Daraus resultierte dip, eine Plattform für die gesamte Sekundarstufe II zum Austausch von digitalen Unterrichtsinnovationen und Good Practice-Beispielen – moderiert von einem Projektteam bestehend aus Lehrpersonen von Mittel- und Berufsfachschulen.

InnoVET: Stark sein und Schwächen offenbaren

Movetia hat in diesem Jahr zahlreiche Projekte für die Berufsbildung lanciert. Sie finanziert Mobilitätsprojekte für Lernende, Lehrabgängerinnen und Lehrpersonen aus der Berufsbildung, Kooperationspartnerschaften, Innovationsallianzen und anderes mehr.

Auf internationaler Ebene ist das BBZ IDM Partnerin im Projekt Swiss CoVE InnoVET. Es wird vom Gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum (GBS) St.Gallen geführt und zählt 15 Partner aus neun Ländern. Finanziert wird dieses «Swiss Center of Vocational Excellence» (Swiss-CoVE) von Movetia. Diese Projektförderung erlaubt es, die teilnehmende Partnern zu 300 Einzelmobilitäten für sechs dreitägige Summits und sechs dreitägigen Teacher Academies einzuladen. Das Kernergebnis eines ersten Treffens bildet eine Übersicht, in der die Teilnehmenden dokumentierten, in welchen Bereichen sie ihre Stärken sehen und wo Nachholbedarf besteht – «we offer» und «we are looking for». Thun deklarierte die kompetenzorientierte Didaktik als Stärke, seine Angebote zur Integration von geflüchteten Jugendlichen sowie Angebote zum Übergang von der Lehre in den Beruf. Zusätzliches Know-How sucht die Schule in den Bereichen «Virtual Reality» oder «immersive Räume». Für den bilateralen Austausch und die Umsetzung im realen Unterrichtsalltag stehen dann Teacher-Academies im Anschluss an die internationalen Projekttreffen zur Verfügung. Ziel dieser Treffen sind die internationale Netzwerkbildung und der Wissensaustausch von direkt in der beruflichen Grundbildung involvierten Lehrpersonen zu Themen wie Digitalisierung oder green economy.

Ben Hüter: «Wenn wir sagen, wir sind die besten, sind wir es bereits nicht mehr».

Der Austausch unter den teilnehmenden Projektpartnern beflügelt aber nicht nur deren eigene Entwicklung. Ein Produkt der Arbeit wird auch ein Beratungskit für künftige Projektträger und deren Akkreditierung sein. In dieser Phase wird besonders der dritte Projektpartner aus der Schweiz, die Ostschweizer Fachhochschule OST und deren ikik-Institut für Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz (Leiter Prof. Dr. Stefan Kammhuber), aktiv sein. Hier dürften dann noch systematischer die strategischen Dimensionen von internationalen Aktivitäten ermittelt werden, wie sie Ben Hüter skizziert:

  • Internationale Kontakte sind eine Quelle der Schul- und Unterrichtsinnovation.
  • Sie bilden eine Aufgabe, die nicht länger von einzelnen Personen getragen werden sollte; vonnöten ist vielmehr eine strategische Verankerung der Zielsetzung, für deren Umsetzung die Schulleitung die Verantwortung trägt.
  • Eine solche Strategie erfordert eine angemessene Ressourcenallokation.
  • Internationale Themen bilden auch auf Ebene der Kommunikation und im Jahreslauf eine fixe Grösse – ähnlich etwa wie das Thema der Unterrichtsentwicklung.

Movetia hat in diesem Jahr zahlreiche Projekte für die Berufsbildung lanciert. Sie finanziert Mobilitätsprojekte für Lernende, Lehrabgängerinnen und Lehrpersonen aus der Berufsbildung, Kooperationspartnerschaften, Innovationsallianzen und anderes mehr. Ben Hüter ist vom hohen Wert solcher Aktivitäten überzeugt. Nun sollte das Anliegen, so findet er, verstärkt auch von den nationalen Gremien der Berufsbildung, etwa der SBBK, aufgenommen werden. «Die Idee der Mobilität wurde bisher stark auf den Austausch von Lernenden oder den bilingualen Unterricht bezogen. Dass sie eine Quelle der Innovation ist, sehen immer noch zu wenige.» Dahinter steht eine weitere Überzeugung von Ben Hüter: Dass die inhaltliche Entwicklung und Weiterentwicklung der beruflichen Grundbildung nicht alleinige Aufgabe der Trägerorganisationen bleiben darf. «In der Verantwortung, den Jugendlichen eine zukunftsgerechte Bildung zu vermitteln und neue berufliche Grundbildungen zu erschliessen, stehen alle Beteiligten der Verbundpartnerschaft.»

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Zitiervorschlag

Fleischmann, D. (2022). Mobilität ist eine Quelle von Innovation. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 7(3).

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