Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Eine Dissertation untersucht die Klischees der Erwachsenen

Wie verplant ist die Jugend?

Das Verhältnis von jungen Erwachsenen zum Thema Zeit irritiert die Erwachsenen manchmal, ja bringt sie zur Verzweiflung. Jugendliche scheinen ungeduldiger und weniger organisiert sein als die Älteren. Und sie interessieren sich offenbar nur für das Hier und Jetzt. Ob solche Zuschreibungen stimmen, ist Gegenstand einer neuen Studie. Sie zeigt: Entgegen des Klischees können sich die meisten der befragten Berufslernenden gut organisieren und haben realistische Zukunftspläne. Aber sie geben damit nicht an – obwohl Zeit eine soziale Ausdrucksform ist. Denn Zeit ermöglicht es den Jugendlichen, sich von der Welt der Erwachsenen, die ihnen sehr organisiert vorkommt, zu unterscheiden. Durch ihren Umgang mit der Zeit können Jugendliche signalisieren, dass sie einer anderen sozialen Kategorie angehören, die sich primär durch Freiheit definiert – die Jugend eben.


Über das Verhältnis der Jungen zur Zeit wird viel spekuliert – etwa wenn sich Lehrpersonen und Berufsbildende in Unternehmen über die mangelnde Organisation der Berufslernenden beklagen. Auch in der Fachliteratur wird die «Generation Y» häufig als ungeduldig und gegenwartsbezogen beschrieben. Sie zappe durchs Leben wie durch das Fernsehprogramm – da sei nichts, was ihr wirklich zusage, heisst es da. Aber stimmt das? Sind die Jugendlichen von heute tatsächlich so unorganisiert und unfähig, Zukunftspläne zu schmieden?

Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen einer Doktorarbeit über das Verhältnis zu Zeit von Lernenden (Mediamatikerinnen, Fachmänner Gesundheit FaGe). Es wurde untersucht, wie die Befragten ihre Zeit im Alltag einteilen und wie gut sie ihre Zukunft planen. 523 Personen beantworteten den Fragebogen, und anhand ihrer Antworten wurden mittels einer Korrespondenzanalyse und durch Clustering Profile erstellt. Mit 28 Lernenden wurden vertiefende Gespräche geführt.

Zeiteinteilungstypen

Die Zeitsozialisation verläuft für die beiden Geschlechter unterschiedlich und führt dazu, dass Mädchen ein ausgeprägteres Bewusstsein für ihre Zeitenteilung entwickeln

Bei der Frage nach der Art, wie Berufslernende im Alltag ihre Zeit einteilen, zeichnen sich drei Kategorien oder «Chronostile» (Rouch, 2006) ab. Sie entsprechen nicht ganz den gängigen Vorstellungen über Jugendliche.

Die «Planer» stellen die grösste Gruppe unter den befragten Personen dar (46%). Diese Lernenden sind mehr als die anderen der Ansicht, dass ihr Stundenplan ausgefüllt ist. Sie schätzen es, gut organisiert zu sein, und zwar sowohl im Rahmen ihrer Ausbildung als auch ausserhalb. Sie nutzen ihren Terminkalender intensiv und legen Wert darauf, die Zeit gut einzuteilen. In dieser Gruppe gibt es doppelt so viele Mädchen wie Jungen. Das verdeutlicht die Zeitsozialisation, die von Kindestagen an für die beiden Geschlechter unterschiedlich verläuft und dazu führt, dass Mädchen ein ausgeprägteres Bewusstsein für ihre Zeitenteilung entwickeln (Duru-Bellat, 2005). Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass Personen, die die Berufsmaturität (BM) anstreben, zu den «Planern» zählen, dreimal höher als bei jenen, die mit einem EFZ abschliessen. Dies verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einer soliden Schullaufbahn und der Fähigkeit zu einem guten Zeitmanagement.

Die «Entspannten» (32% der Testpersonen) halten nicht viel von Organisation und ziehen es vor, die Dinge spontan anzugehen. Sie benutzen kaum oder gar nie einen Terminkalender. Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit für junge Männer 1,7 Mal höher als für Frauen, zu dieser Gruppe zu gehören. Lernende mit EFZ-Abschluss sind in dieser Gruppe 3,3 Mal häufiger vertreten sind als BM-Lernende. Aus den Gesprächen geht hervor, dass viele dieser Jugendlichen ihr Umfeld als unsicher empfinden. Sie versuchen deshalb nicht, es zu kontrollieren, sondern bleiben lieber selber flexibel und anpassungsfähig.

Die «Ambivalenten» (22% der Befragten) geben an, Organisation mässig zu mögen. Sie haben den Eindruck, dass ihr Stundenplan durchschnittlich gefüllt ist und verfügen zwar über einen Terminkalender, tragen aber nur ein. Im Vergleich zu den anderen haben sie eher das Gefühl, sich seit Beginn ihrer Lehre schwerer damit zu tun, ihre Zeit einzuteilen und mehr auf Freizeitaktivitäten verzichten zu müssen. Diese Haltung kann zwei Gründe haben, wie die qualitativen Interviews zeigen: Entweder gründet sie in einer Kluft zwischen der familiär und kulturell gelebten Zeit-Sozialisation und jener, die ihre Berufsausbildung erfordert; oder diese Haltung steht in Zusammenhang mit einer persönlichen depressiven Lebensphase.

Die persönliche Zeiteinteilung (Chronostil) verändert sich im Verlauf der Ausbildung nur wenig. Bei der Mehrheit der «Planer» verbessert sich das Zeitmanagement durch die in der Lehre vorgegebene zeitliche Struktur und die Erwartungen der Akteure in der Ausbildung zusätzlich. Die «Entspannten» und «Ambivalenten» bleiben dies zumeist. Bei manchen konnte jedoch ein Anstieg der Organisationsfähigkeit festgestellt werden. Sie half ihnen, mit den zeitlichen Anforderungen der Lehre fertig zu werden, schränkte aber ihre Freizeit ein.

Zukunftsplanung

54% der Befragten wünschen sich später einmal beruflich eine gute Stelle und möchten auch eine Familie gründen (99% wünschen sich, in einer Beziehung zu leben, 93% möchten Kinder).

Um die gängige Vorstellung, dass Jugendliche sich kaum um ihre Zukunft sorgen, zu überprüfen, wurden sie auch nach ihren Fähigkeiten befragt, die Zukunft zu planen. Dabei kamen vier Profile heraus.

Die «Antizipierenden» (54% der Befragten) wünschen sich später einmal beruflich eine gute Stelle und möchten auch eine Familie gründen (99% wünschen sich, in einer Beziehung zu leben, 93% möchten Kinder). 59% der angehenden FaGe gehören dieser Gruppe an, bei den Mediamatik-Lernenden sind es 47%. Diese Differenz ergibt sich zum Teil aus den geschlechterspezifischen Unterschieden der beiden Berufe; der Frauenanteil bei den FaGe-Lernenden lag in dieser Studie bei 84%, der in der Mediamatik bei 30%. Wie verschiedene Studien gezeigt haben, ist das Zeitmodell, das mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird, unter anderem durch «ein zweigeteiltes Leben» gekennzeichnet (Haicault, 1984), das hohe Ansprüche stellt. Sie müssen Erwerbsarbeit und Haushalt unter einen Hut bringen.

Die «Individualisten» stellen 23% der befragten Personen. Sie finden ihre berufliche Zukunft wichtig, und wie die Antizipierenden planen drei Viertel von ihnen, nach Abschluss der Lehre zu studieren. Aber nur eine Minderheit möchte später in einer Beziehung leben (44%), und nur sehr wenige hegen einen Kinderwunsch (11%). Bei den Männern ist die Wahrscheinlichkeit, zu dieser Gruppe zu gehören, höher (28%, gegenüber 20% bei den Frauen).

Die «Unentschlossenen» bilden 12% der Befragten. 82% von ihnen wissen noch nicht, was sie nach der Lehre machen möchten, was aber nicht bedeutet, dass sie keine Pläne haben. Wenn sie sich ihre Zukunft vorstellen, ziehen sie stärker als die anderen mehrere Möglichkeiten in Erwägung. Damit verbunden ist ein Gefühl der Unruhe. Auch wenn die Mitglieder dieser Gruppe keine gemeinsamen Merkmale aufweisen, lässt sich doch sagen, dass Lernende, die im Laufe ihrer Lehre ein Jahr wiederholt haben, eher zu dieser Gruppe gehören.

Die «Gegenwartsbezogenen» sind ganz auf ihr momentanes Leben fokussiert. Obwohl die Hälfte dieser Gruppe (11% der Befragten) eine Familie gründen und ein Studium absolvieren möchte, halten viele ihre Zukunft nicht für wichtig. Das bedeutet nicht, dass ihr Leben sie nicht interessiert. Vielmehr sind es besondere Lebensumstände, die sie zu dieser gegenwartsbezogenen Haltung führen.

Die Antworten der jungen Erwachsenen unterscheiden sich statistisch kaum, wenn man Faktoren wie die Nationalität der Lernenden, die sozioökonomische Stellung des Elternhauses, die zuvor besuchte Pflichtschule oder der eingeschlagene Weg der Berufslehre (Schule oder Unternehmen) berücksichtigt. Stattdessen lassen sich die unterschiedlichen Haltungen am ehesten durch die Komplexität der jeweiligen Lebensläufe erklären.

Fazit

Die vorliegende Arbeit zeigt aber, dass das Klischee über eine schlecht organisierte oder verplante Jugend falsch ist.

Die Zeit dient als gesellschaftliche Ausdrucksform: Indem sich manche Jugendliche entspannt geben und wenig daran interessiert zeigen, ihr Leben zu planen, betonen sie ihre Zugehörigkeit zur «Jugend». Diese soziale Kategorie ist insbesondere durch eine gewisse Freiheit von familiären, ökonomischen und beruflichen Verpflichtungen gekennzeichnet.

Die vorliegende Arbeit zeigt aber, dass das Klischee über eine schlecht organisierte oder verplante Jugend falsch ist. So gehört fast die Hälfte der Jugendlichen zur Gruppe der «Planer»; sie nutzen ihren Terminkalender intensiv und legen Wert darauf, sich ihre Zeit von Beginn ihrer Lehre an gut einzuteilen. Auffällig ist allerdings, dass sich deutlich mehr junge Frauen als Männer so verhalten.

Die aktuelle Generation der Jugendlichen ist mitten in der digitalen Revolution aufgewachsen, in der sich die Möglichkeiten, zu Informationen zu gelangen, vervielfacht haben. Vor dem Hintergrund der vorherrschenden sozialen Werte (Wettbewerb, Individualismus und Unabhängigkeit) organisieren sich die jungen Erwachsenen so, dass sie so lange wie möglich die Aktivitäten auszuüben können, die ihnen am interessantesten erscheinen. Anders gesagt: Sie nutzen die digitalen Tools, um zum Beispiel Abgabefristen oder Arbeitsvorgaben zu verwalten. Man könnte die Jugendlichen dazu anregen, die Apps für eine insgesamt bessere Zeitplanung einzusetzen.

Literatur

Zitiervorschlag

Ruiz, G. (2020). Wie verplant ist die Jugend?. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(3).

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