Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Forschungsprojekt «Enhanced Inclusive Learning» zum Nachteilsausgleich

Zumeist hilfreich

Mehr als jeder vierte Jugendliche und junge Erwachsene sagt von sich, er sei beeinträchtigt. Die Betroffenen berichten von Schwierigkeiten bei der Bewältigung von schulischen oder betrieblichen Anforderungen und einem reduzierten Wohlbefinden. Ein Teil von ihnen erhält einen Nachteilsausgleich. Er wird vor allem von Personen genutzt, die Lese-Rechtschreibstörungen haben, gefolgt von ADHS und körperlichen Beeinträchtigungen. An den Schulen sind zwar zunehmend Wissen und Erfahrung vorhanden, wie man mit dem Nachteilsausgleich umgeht. Bei der Umsetzung bestehen aber auch Unsicherheiten. Das Projekt «Enhanced Inclusive Learning» zeigt Erfahrungen, Einstellungen und Umsetzungsmöglichkeiten.


Der Übergang von der Schule in die Berufsbildung und später ins Erwerbsleben stellt für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung eine besondere Herausforderung dar. In den letzten Jahren haben verschiedene Reformen dazu beigetragen, diesen Übergang zu erleichtern. Spezielle Massnahmen für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung gibt es auf Sekundarstufe II jedoch vergleichsweise wenige. Ein wichtiges Instrument ist der Nachteilsausgleich, den Jugendliche mit einem ärztlichen Attest anfordern können. Er soll Massnahmen zur Unterstützung beim Lernen oder bei Prüfungen ermöglichen, aber keine inhaltliche Anpassung der Lernziele.

Während Jugendliche mit Lernstörungen spezifische Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Anforderungen in der Schule zeigen, wirkt sich eine eingeschränkte psychische Gesundheit umfassender auf die Situation der Betroffenen aus.

Um mehr über die Situation von Lernenden mit einer Beeinträchtigung auf Sekundarstufe II und dem Umgang mit dem Nachteilsausgleich zu erfahren, führten die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH) und die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit (HSLU) die Studie «Enhanced Inclusive Learning» durch. Neben der Erhebung des Wohlbefindens und der Anforderungsbewältigung von betroffenen Jugendlichen wurden die Umsetzung des Nachteilsausgleichs, Erfahrungen und Einstellungen sowie der Unterstützungsbedarf der Lehrpersonen ermittelt. Die Studie wurde vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) und Stiftungen finanziell unterstützt.
Die Studie umfasste zwei Erhebungen, eine quantitative Befragung in Schulklassen mit mindestens einer Person mit Nachteilsausgleich und eine qualitative Vertiefung. Insgesamt nahmen 66 Klassen aus Mittel- und Berufsfachschulen aus zehn Deutschschweizer Kantonen teil. Die Stichprobe bestand damit aus 907 Jugendlichen im Alter von 14 bis 24 Jahren; von ihnen bezogen 60 Jugendliche einen Nachteilsausgleich. Mit einzelnen von ihnen und ihren Lehrpersonen wurden im Rahmen des qualitativen Forschungsteils 24 Interviews durchgeführt.

Beeinträchtigungen auf Sekundarstufe II

Etwas mehr als jeder vierte befragte Jugendliche bzw. junge Erwachsene (27%) gab an, eine Beeinträchtigung zu haben. Dabei handelt es sich um Selbstauskünfte und nicht zwangsläufig um medizinisch diagnostizierte Behinderungen oder Erkrankungen. Psychische Beeinträchtigungen wurden am häufigsten genannt (8%), gefolgt von körperlichen und chronischen Beeinträchtigungen (7%), Lese-Rechtschreibstörungen (LRS, 7%) und Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störungen (ADHS, 6%). Anzumerken ist, dass die Auftretenshäufigkeit der Beeinträchtigungen aufgrund der Auswahl von Klassen mit Jugendlichen mit Nachteilsausgleich gegenüber einer repräsentativen Stichprobe etwas verzerrt sein dürfte. So ist anzunehmen, dass insbesondere Jugendliche mit Lese-Rechtschreibstörungen in der Stichprobe überrepräsentiert sind (7% gegenüber ca. 5% bei Schulte-Körne, 2010).

Abbildung 1: Prozentuale Verteilung der Beeinträchtigungsarten in der Studie (Doppelnennungen waren möglich)

Die Beeinträchtigungen zeigen unterschiedliche Folgen. Während Jugendliche mit Lernstörungen spezifische Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Anforderungen in der Schule zeigen, wirkt sich eine eingeschränkte psychische Gesundheit umfassender auf die Situation der Betroffenen aus: Nebst Schwierigkeiten in der Anforderungsbewältigung in Schule und Betrieb weisen sie ein vermindertes Wohlbefinden in allen untersuchten Bereichen auf (z.B. in der Ausbildung, Familie, mit Freunden).

Umgang mit Beeinträchtigungen am Schulhaus

Einstellungen und Wissen der Lehrpersonen und Schulleitungen über die Formen und Auswirkungen von Beeinträchtigungen sind zentral. Unsere Befragung zeigt, dass ein Grossteil der befragen Lehrpersonen tendenziell findet, dass Jugendliche mit Beeinträchtigungen besonders gefördert werden sollen. Bei der Umsetzung sehen die Befragten jedoch oft Probleme: Zeitdruck oder fehlende Infrastrukturen am Schulhaus werden dafür verantwortlich gemacht.

Das Wissen der Lehrpersonen ist sehr unterschiedlich und abhängig von den Berührungspunkten der Lehrpersonen mit Beeinträchtigungen. Die befragten Lehrpersonen erleben sich grundsätzlich als selbstwirksam, was den Umgang mit betroffenen Jugendlichen angeht. Der Bedarf nach mehr Kenntnissen bezüglich verschiedener Beeinträchtigungsformen wird unterschiedlich eingeschätzt. Einige Lehrpersonen äussern einen solchen Bedarf, andere wünschen ausschliesslich zugeschnittenes Wissen über die von ihnen unterrichteten Lernenden.

Ein Grossteil der befragten Lehrpersonen empfindet die Organisation im Schulhaus bezüglich des Umgangs mit betroffenen Lernenden als gut. Laut den Einschätzungen der Lehrpersonen finden nur wenige Weiterbildungen zum Umgang mit Beeinträchtigungen statt; ebenso wurde verhältnismässig wenig davon berichtet, dass im Klassencurriculum genügend Zeit für individualisierte Lehr- und Lernformen vorhanden sei. Gewünscht werden insbesondere die Schaffung niederschwelliger Anlaufstellen, eine bessere Vernetzung mit anderen Lehrpersonen und der Zugang zu praktischem Wissen und Anweisungen bei konkreten Fällen.

Erfahrungen von Jugendlichen

Ein Lernender nennt «halt vor allem das Verständnis, das finde ich fast das Grösste, weil, wer sich nicht verstanden fühlt, der spricht nicht darüber (…).»

Die Mehrheit der Jugendlichen mit Nachteilsaugleich in der Stichprobe (62%) berichtet von einer Lese-Rechtschreibstörungen (LRS). Am zweithäufigsten kommt in der Nachteilsausgleich-Stichprobe ADHS (18%) vor, gefolgt von körperlichen Beeinträchtigungen (15%). Die weiteren Jugendlichen mit Nachteilsausgleich weisen Beeinträchtigungen in Form von Dyskalkulie, Autismus, Seh- und Hörbeeinträchtigungen sowie psychische Beeinträchtigungen auf.

Der Weg bis zum Einsatz des Nachteilsausgleichs (Gesuchstellung mit Attest einer anerkannten Abklärungsstelle, Vereinbarung mit der Schule) wird von den Jugendlichen sehr unterschiedlich bewertet. Während ihn einige als problemlos empfinden, berichten andere von einer eher komplizierten Prozedur. Diese unterschiedlichen Einschätzungen hängen insbesondere mit unterschiedlichen Regelungen und Verankerungen des Nachteilsausgleichs in den Schulhäusern zusammen. Während einige Lernende beispielsweise an der Besprechung hinsichtlich der Massnahme teilnehmen konnten, blieben anderen in der Massnahmenbesprechung unberücksichtigt.

Am häufigsten werden Zeitzuschläge gewährt. Modifikationen der Prüfungsform (z.B. mündlich statt schriftlich) oder -kriterien (z.B. Grammatik wird nicht bewertet) sowie das Gewähren eines separaten Raumes sind weitere erwähnte Massnahmen. Etwa drei Viertel der befragten Jugendlichen (73%) finden, dass die zugesprochene Massnahme ein wenig bis sehr hilfreich sei. Diese Einschätzung hängt stark davon ab, ob die Bedürfnisse einer Person tatsächlich berücksichtigt werden. Eine Lernende berichtet: «Ich durfte nicht mitbestimmen, das ist mir einfach vorgeschrieben worden und ich ging dann zu den Lehrpersonen. Das alles brauchte ich eigentlich gar nicht, zum Beispiel ein abgetrenntes Zimmer oder einen Computer.»

Die Jugendlichen finden klar definierte Ansprechpersonen, Rahmenbedingungen und Gefässe sowie eine flexible Umsetzung nützlich. Das Verständnis im Umfeld hinsichtlich der Beeinträchtigung ist für die Jugendlichen sehr wichtig, damit die Sinnhaftigkeit der Massnahme nachvollzogen werden kann. Entsprechend wird auch die Information an die Klasse als relevanter Faktor erwähnt. Hinderlich sind formale Hürden und fehlende Anpassungsfähigkeit an den Kontext; weiter wird Angst vor Unverständnis der Mitschüler und Mitschülerinnen erwähnt. Ein Lernender nennt «halt vor allem das Verständnis, das finde ich fast das Grösste, weil, wer sich nicht verstanden fühlt, der spricht nicht darüber (…).»

Perspektive der Lehrpersonen

Bei den Lehrpersonen sind die Kenntnisse über die Nachteilsausgleichsmassnahmen unterschiedlich gut. Rund ein Fünftel der befragten Lehrpersonen hat eine kritische Einstellung zum Nachteilsausgleich und ist der Meinung, dass damit unter anderem neue Ungleichheiten geschaffen werden. Insbesondere werden Selektionsaufgaben geltend gemacht, da sich die Lernenden qualifizieren müssten. Bedenken werden aber auch bezüglich möglicher Konflikte innerhalb der Klasse oder einem möglichen Missbrauch des Nachteilsausgleiches geäussert.

Aus Sicht der Lehrpersonen liegt der Erfolg in der Umsetzung des Nachteilsausgleiches unter anderem im Zugang zu Informationen. Informationsbedarf besteht dabei abhängig von der Lehrperson bei der Klärung des rechtlichen Rahmens, bei den Kenntnissen zum konkreten Umgang und den individuellen Bedürfnissen. Die Lehrpersonen wünschen sich Fachberichte, welche alle nötigen Informationen zur Umsetzung enthalten, und die Schaffung einer Anlaufstelle. Gewünscht werden zudem regelmässig stattfindende Gespräche zwischen Lehrpersonen und betroffenen Lernenden sowie eine verstärkte Zusammenarbeit mit Fachpersonen und dem Umfeld der betroffenen Jugendlichen.

Schlussfolgerungen

Als fundamental für einen erfolgreichen Umgang mit dem Nachteilsausgleich erweisen sich klare Prozesse im Schulhaus.

Inklusion stellt auf Sekundarstufe II und insbesondere im Gymnasium ein bisher vernachlässigtes Thema dar, das erst in jüngster Zeit in den Blick genommen wird (Siedenbiedel, 2017). Die Ergebnisse unserer Studie zeigen die Notwendigkeit auf, Lehrpersonen und Rektorat auf Sekundarstufe II für unterschiedliche Beeinträchtigungsformen zu sensibilisieren. Es muss aufgezeigt werden, mit welchen Schwierigkeiten die einzelnen Beeinträchtigungsformen einhergehen können und welche Auswirkungen sie im schulischen (und betrieblichen Kontext) nach sich ziehen. Aus diesem Verständnis heraus könnten sich Ansatzpunkte einer adäquaten Unterstützung entwickeln. Universelle Massnahmen, zum Beispiel die Förderung eines positiven Klassenklimas und der Einsatz von inklusiven Unterrichtsmethoden, gehören ebenso dazu wie der Umgang mit Massnahmen des Nachteilsausgleichs.

Als fundamental für einen erfolgreichen Umgang mit dem Nachteilsausgleich erweisen sich klare Prozesse im Schulhaus. Es zeigt sich, dass Beauftragte für Nachteilsausgleichsfragen überaus hilfreich sind. Niederschwellige Anlaufstellen für Fragen, Vernetzung und der Austausch des Erfahrungswissen können Unsicherheiten abbauen. Weiter regeln klare Prozesse den Zugang, die Festlegung und die Umsetzung der Massnahmen. Dabei ist die Einsicht unerlässlich, dass Lernende trotz ähnlicher oder gleicher Beeinträchtigungen unterschiedliche Bedürfnisse haben; Massnahmen des Nachteilsausgleiches dürfen daher nicht beeinträchtigungsspezifisch standardisiert werden. Sie sollten stattdessen individuell und sorgfältig abgeklärt werden (Lienhard-Tuggener 2015), was einen Einbezug der Betroffenen unabdingbar macht.

Als zweiter Teil der Studie wurden in Zusammenarbeit mit Experten und Expertinnen Angebote für die Praxis entwickelt, so der Leitfaden Umgang mit Beeinträchtigungen auf Sekundarstufe II und eine Fachstelle für Fragen rund um die berufliche Inklusion.

Weitere Informationen zum Nachteilsausgleich finden Sie auf der Website der SZH (Stiftung Schweizerisches Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik)

Literatur

  • Lienhard-Tuggener, P. (2015). Nachteilsausgleich – oder die Herausforderung, Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung herzustellen. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 21, 3, 11-16.
  • Schulte-Körne, G. (2010). The prevention, diagnosis, and treatment of dyslexia. Deutsches Ärzteblatt International, 107 (41), 718–727.
  • Siedenbiedel, C. (2017). Inklusion am Gymnasium. In A. Textor, S. Grüter, I. Schiermeyer-Reichl & B. Streese (Hrsg.), Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft. 2. Unterricht, Leistungsbewertung und Schulentwicklung (S. 236-246). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt
Zitiervorschlag

Krauss, A., & Schellenberg, C. (2020). Zumeist hilfreich. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 5(3).

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