Berufsbildung in Forschung und Praxis
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Tagungsrückblick

«Zwischen Stuhl und Bank» beim Berufseinstieg

Am 29. Oktober 2016 trafen sich rund 170 Fachpersonen zu einer Tagung der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik zum Berufseinstieg für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Die Tagung dokumentierte eine Vielzahl von Aktivitäten zur Verbesserung dieses oft schwierigen Übergangs. Erschwerend ist, dass der Arbeitsmarkt zu wenige Stellen für Menschen mit Einschränkungen bietet. Eines der Tagungsergebnisse: Die interinstitutionelle Zusammenarbeit sollte weiter professionalisiert werden.


Der Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben, die sich in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter stellen. Gelingen oder Scheitern haben in dieser Phase wichtige Konsequenzen für die weitere berufliche Entwicklung.  Dieser Übergang ist besonders heikel für Jugendliche, die noch nicht in der Lage sind, eine erste Ausbildung zu beginnen, und für Jugendliche, die weder eine Lehrstelle noch eine Zwischenlösung gefunden haben. Die betroffenen Jugendlichen müssen angemessen begleitet werden, um beispielsweise zu verhindern, dass psychische Probleme entstehen, sich verschlechtern oder chronisch werden. Eine grosse Bedeutung kommt allen Netzen zu, welche Jugendliche in solchen Situation auffangen: Wichtige Player sind hier Akteure des Gesundheitswesens, der Sozialversicherungen und der schulischen und beruflichen Bildung.

Eine Tagung an der Hochschule für Heilpädagogik befasste sich Ende Oktober mit den Rollen von solchen Netzen beim Übergang von der Schule in den Beruf und ging folgenden Fragen nach: Wer ist an den Schnittstellen zuständig für Jugendliche ohne Anschlusslösung? Wie arbeiten die verschiedenen Stellen zusammen? Welche Angebote gibt es für diese Jugendlichen?

Silvia Steiner: Zu viele unbesetzte Lehrstellen

Die Tagung eröffnete als erste Referentin Silvia Steiner, Vorsteherin der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Sie betonte, dass mehrere Schlaufen in Zwischenjahren zu verhindern sind, da diese die Chancen auf einen Übertritt auf Sekundarstufe II nicht oder nur wenig verbessern. Ziel soll darum sein, dass möglichst viele Jugendliche nach der obligatorischen Schule Direkteinstiege haben. Rund 1300 Lehrstellen bleiben jedes Jahr unbesetzt und es stellt sich die Frage, warum so viele Jugendliche trotzdem in Brückenangebote übertreten. Weiter plädiert sie dafür, dass die Berufsausbildung als ein System mit mehreren Lernorten gut mit dem Beschäftigungssystem gekoppelt ist. Die Wirtschaft müsse nun aber überzeugt werden, dass auch Abschlüsse von kürzerer Ausbildungsdauer (wie EBA, PrA) etwas wert sind und auch schwächeren Jugendlichen eine Chance geben. Das Berufsbildungssystem bleibe jedoch selektiv: Nicht jede Person kann die angestrebte Ausbildung abschliessen. Diese «Härte» könne jedoch durch die verbesserte Durchlässigkeit zwischen Ausbildungsgängen kompensiert werden. Jugendliche müssten vielleicht auch lernen, dass Traumberufe nicht immer als Erstberufe gelernt werden können. Die Mehrheit finde ihren Weg, aber vielleicht mit dem Beruf zweiter und dritter Wahl. Ausserdem müssen Lehrbetriebe vermehrt akzeptieren, dass die Begleitung der Jugendlichen ein Teil ihres Auftrages ist.

Ida Bircher: Kontinuierliche Beratung tut not

Im Anschluss daran schilderte Ida Bircher, Leiterin der Abteilung Berufliche Integration vom Bundesamt für Sozialversicherung, die Situation der Invalidenversicherung und die künftigen Strategien. Ausgangslage ist, dass die Anforderungen in der Berufsbildung und in der Arbeitswelt gestiegen sind, das Angebot an niederschwelligen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen oft fehlt und die Systemgrenzen bezüglich Zuständigkeit und Finanzierung bei «Jugendlichen zwischen Stuhl und Bank» unklar sind. Die IV setzt bereits seit 2008 mit den IVG-Revisionen verstärkt auf die berufliche Eingliederung. Im Fokus sind insbesondere Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit psychischen Problemen. Man setzt hier darauf, gesundheitliche Beeinträchtigungen möglichst früh zu erkennen, die bestehenden Eingliederungsmassnahmen zu optimieren und die Kooperation und Koordination zu verbessern. Ausserdem sollen spezialisierte kantonale Brückenangebote und Integrationsmassnahmen mitfinanziert werden, um Jugendliche gezielt auf die Ausbildung hin zu fördern bzw. sie durch den Erhalt der Tagesstruktur zu stabilisieren. Ausbildungen sollen aus Sicht der IV möglichst im ersten Arbeitsmarkt oder wirtschaftsnah in Institutionen stattfinden. Dabei sieht die IV ihre Aufgabe darin, an den Schulen zu informieren und die Betroffenen und ihr Umfeld mit spezialisierten Fachstellen zu vernetzen. Die öffentliche Berufsberatung und Fachstellen des Case-Managements Berufsbildung (CM BB) sollen ausserdem bezüglich Zuständigkeiten und Vorgehen beraten werden. Weiter wird betont, dass eine kontinuierliche Beratung und Begleitung über beide Schwellen, von der Schule in die Ausbildung und die Arbeitswelt anzustreben sei.

Jean-Pascal Lüthi: IIZ verbessern

Aus Sicht des SBFI, vertreten durch Jean-Pascal Lüthi, Vizedirektor und Abteilungsleiter berufliche Grundbildungen und Maturitäten, besteht die grosse Herausforderung bei der beruflichen Integration von Jugendlichen mit Mehrfachproblematiken. Diese Gruppe sei sehr heterogen und herkömmliche Unterstützungssysteme reichen oft nicht aus. Vor diesem Hintergrund startete 2006 das Case Management Berufsbildung (CM BB), mit dem Ziel diese Jugendlichen zu unterstützen. Das Konzept des CM BB beinhaltet eine kontinuierliche Begleitung von der obligatorischen Schulzeit (ab 7. Schuljahr), über allfällige Brückenangebote bis in die Ausbildung. Gefährdete Jugendliche sollen so frühzeitig erkannt und kontinuierlich beobachtet werden. Eine fallführende Stelle sorgt über institutionelle Grenzen hinweg für ein koordiniertes Vorgehen. Bisherige Auswertungen zeigen, dass die Zahl der Jugendlichen im CM BB stetig zugenommen hat auf über 5000 (2013). Rund ein Drittel ist beim Eintritt ins CM BB noch auf Sekundarstufe I oder in einem Brückenangebot, 15% sind in Ausbildung, 16% haben eine Lehrvertragsauflösung hinter sich, das letzte Drittel ist beim Eintritt ohne Beschäftigung/Schulung. Der Referent weist darauf hin, dass das CM BB auch als ein Teil der interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ) zu betrachten ist.  Ziel der IIZ ist allgemein, die Sicherungs- und Integrationssysteme optimal aufeinander abzustimmen, um Personen mit komplexen Problemlagen rasch und nachhaltig beruflich zu integrieren. Die Herausforderung besteht darin, dass der Prozess in der Regel mehrere Institutionen betrifft, Rechtssetzungs- und Vollzugskompetenzen auf Bund und Kantone aufgeteilt sind und verschiedene Systemlogiken aufeinandertreffen. Als Beispiele von IIZ Projekten werden u.a. eine Bestandsaufnahme zur Bildungsbeteiligung von spät eingereisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen und die Überprüfung der Angebote zur Nachholbildung genannt. Die IIZ-Fachstellen sollen gemäss Aussagen des Referenten weiter professionalisiert und der Kontakt mit dem «Terrain» ausgebaut werden, im Sinne von mehr «Buttom up» und weniger «Top down».

Martin Boltshauser: Zu wenige Arbeitsstellen

Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst bei procap, verweist in seinem Referat darauf, dass zwar lückenlose Übergänge zwischen Schule und Ausbildung bzw. zwischen Ausbildung und Arbeitswelt erwünscht seien, die Realität für leistungseingeschränkte Menschen jedoch anders aussehe. Es sei ein Trugschluss zu meinen, man könne Kinder und Jugendliche während der Ausbildungszeit fördern und begleiten und sie dann praktisch unbegleitet und allein in den ersten Arbeitsmarkt «schicken». Die grosse Vielfalt im System und die  verschiedenen Kostenträger (Bund, Kantone, Arbeitgeber) erfordern Koordination. Jugendliche ohne IV-Berechtigung haben jedoch keine Unterstützung und müssen ihre Situation mit dem Sozialamt klären. Auf der anderen Seite haben Jugendliche, denen eine Rente zugesprochen wurde, auch später (z.B. bei einem «Entwicklungsschub») die Möglichkeit, wieder ein neues Gesuch um berufliche Massnahmen zu stellen. Eine vorübergehende IV-Rente könne somit auch als «Integrations­mass­nahme» bezeichnet werden. Umgekehrt ist eine «Rückkehr» von der Arbeit zur Rente jedoch meist schwierig. Zudem bietet der Arbeitsmarkt zu wenige Stellen für Menschen mit Einschränkungen und es existieren keine Verpflichtungen von Seiten der Arbeitgeber. Bei der IV wurde diese Problematik erkannt und es wird als Lösung vorgeschlagen, dass die Nachbetreuung solange dauern soll, bis – bezogen auf den Ersten Arbeitsmarkt – eine stabile Leistungsfähigkeit definiert werden kann. Procap begrüsst dies und stellt ausserdem einen «Nachteilsausgleich» auch im Bereich Beruf/Arbeit zur Diskussion, wünscht sich eine grössere Durchlässigkeit zwischen Arbeit und Rente und fordert wissenschaftlich zuverlässige Zahlen bezüglich Eingliederungserfolg und vermehrtes Einbinden der Arbeitgeber in die Verantwortung.

Peter Dolder: Was der individuelle Kompetenznachweis bringt

Peter Dolder, Leiter des Projektes «individueller Kompetenznachweis» (IKN) berichtet über das Ziel des IKN, die Chancen für Jugendliche ohne abgeschlossene berufliche Grundbildung im Arbeitsmarkt zu verbessern, indem die erworbenen Handlungskompetenzen offiziell anerkannt und bestätigt werden. Der IKN ist ein von der OdA des Berufs und der SBBK anerkanntes und vom SBFI unterstütztes Dokument. Die Kompetenzen sollen so in der Arbeitswelt besser «lesbar» sein. Die Voraussetzung für einen IKN ist, dass die Handlungskompetenzen im Rahmen von standardisierten Ausbildungen erworben werden, d.h. die Ausbildungsgänge müssen über einen Bildungsplan und eine geregelte Lernprozessbegleitung verfügen. Der IKN ist hier gedacht als eine standardisierte, branchenspezifische Ergänzung zum Lehrzeugnis bzw. zum Schulbericht. Die Zielgruppen des IKN sind Absolventinnen und Absolventen einer zweijährigen Grundbildung mit EBA, welche die Abschlussprüfung nicht bestehen und Absolventinnen und Absolventen einer praktischen Ausbildung nach INSOS, einer Vorlehre oder anderer beruflicher Integrationsmassnahmen. Den Referenzrahmen für die Gliederung der attestierten Handlungskompetenzen bildet das Qualifikationsprofil der zweijährigen beruflichen Grundbildung EBA. Momentan wird der IKN bzw. die berufsspezifischen Instrumente des IKN in drei Berufen erprobt: Büroassistent/in EBA (IGKG Schweiz), Logistiker/in EBA (SVBL), Schreinerpraktiker/in EBA (VSSM). In allen drei Projektbereichen wirkt auch INSOS mit ihren zugehörigen PrA-Ausbildungen mit.

Interessante Best Practices

In verschiedenen Workshops wurden die Themen der Hauptreferate wieder aufgenommen und am Beispiel von konkreten Projekten und Massnahmen aus verschiedenen Kantonen konkretisiert. Es gab zum einen Workshops zu konkreten Brücken- und Begleitangeboten, welche Jugendliche in Übergangssituationen begleiten. So berichtete z.B. das Projekt «Stiftung Förderraum» (St. Gallen) darüber, wie Jugendliche bei einem Lehrstellenwechsel begleitet werden und beispielsweise im Gastronomiebereich eine «Auszeit» von acht Wochen in einem Betrieb mit weniger Leistungsdruck erhalten. Am Beispiel von Bern wurden die auch in anderen Kantonen bestehenden Motivationssemester («SEMO»auch) vorgestellt, in denen Jugendliche und junge Erwachsene dabei unterstützt werden, einen Ausbildungsplatz oder eine Stelle zu finden. Die Besonderheit in Bern besteht darin, dass neben dem «Standardprogramm» ein sogenanntes «SEMO plus» für Jugendliche geführt wird, die eine engere und individuell stärker angepasste Begleitung brauchen. SEMO plus dauert i.d.R. länger (maximal 22 Monate) und hat zum Ziel, die Grundarbeitsfähigkeit herzustellen.

Weitere Workshops befassten sich mit der Umsetzung des CM BB in den Kantonen Zürich und Basel. In Basel heisst beispielweise ein aktuelles Angebot «GAP», welches neu mit der Langzeitbegleitung Jugendlicher von der Schule bis in den Arbeitsmarkt beauftragt ist. GAP unterstützt die Schulen in Zusammenarbeit mit dem schulpsychologischen Dienst bei der Früherfassung von Jugendlichen mit besonderen Problemlagen und in der Prävention. Der Referent betonte die hohe Zahl von Selbstanmeldungen von Jugendlichen (z.B. auch Lehrabbrechende) und dass das Angebot freiwillig ist. Darüber hinaus  gab es Workshops, welche sich mit spezifischen Zielgruppen von Jugendlichen zwischen Stuhl und Bank befassen, z.B. Jugendliche/Lernende mit psychischen Beeinträchtigungen oder Jugendliche/Lernende mit einem ADHS.

Podiumsgespräch: Bereicherung für die Betriebe

Zum Abschluss der Tagung diskutierten verschiedene Referentinnen und Referenten im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Dabei wurde z.B. thematisiert, dass sich im System naturgemäss verschiedene Bedürfnisse gegenüber stehen. Die Zusammenarbeit müsse trotzdem verbessert werden, mit dem Ziel, gemeinsam und multiprofessionell die Arbeitsintegration von schwächeren Jugendlichen zu verbessern. Im Vordergrund sollen die Jugendlichen – und keine «Cases» – stehen, unterstützt von verschiedenen Fachleuten, welche Prozessbegleitung anbieten. Weiter wurde erörtert, wie die Situation von Jugendlichen «zwischen Stuhl und Bank» verbessert werden sollte. Man ist sich einig, dass Betriebe eine zentrale Rolle spielen, da sie diejenigen sind, welche Stellen zur Verfügung stellen und die Jugendlichen zu einem Teil auch begleiten. Arbeitgebende sollten in diesen Aufgaben unterstützt und motiviert werden. Als Anreize für die Betriebe sollen weniger finanzielle Aspekte als mehr der Gewinn im persönlichen Bereich hervorgehoben werden – Dazulernen und sich weiterentwickeln, auch als Betrieb!

Zitiervorschlag

Hofmann, C., & Schellenberg, C. (2017). «Zwischen Stuhl und Bank» beim Berufseinstieg. Transfer. Berufsbildung in Forschung und Praxis 2(1).

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