Berufsmaturität – Lernen zwischen Stuhl und (Werk)bank.
Ist die Berufsmaturität ein Königsweg oder doch eine „Hohle Gasse“? Welche Qualitäten, welche Schwächen hat die Berufsmaturität in der Praxis? Welche Rolle spielt die Berufsmaturität im Rahmen der zukünftigen Entwicklungen in den Bereichen Berufsbildung und Arbeitsmarkt?
Im Rahmen ihres 25jährigen Jubiläums veranstaltet die Schweizerische Gesellschaft für angewandte Berufsbildungs-forschung (SGAB) einen Table ronde zur Berufsmaturität. In dieser Veranstaltung wird das Thema aus der Sicht der einzelnen Akteure beleuchtet. Der Fokus liegt dabei auf der konkreten Handhabung des der Berufsmaturität in der Praxis und den Potentialen, die bei der Umsetzung sichtbar werden.
Die SGAB hat zu diesem Zweck verschiedene Expertinnen und Experten zu einer moderierten Podiumsdiskussion eingeladen.
Mit über 60 Teilnehmern dieser Veranstaltung waren alle vorhandenen Plätze restlos belegt. Die Präsidentin Frau Nationalrätin Josiane Aubert und die Geschäftsführerin Désirée Anja Jäger begrüssten die Anwesenden und stellten die Podiumsteilnehmer vor. Frau Aubert hielt zum 25jährigen Bestehen der SGAB eine kleine Eröffnungsansprache. Diese kann hier heruntergeladen werden.
Die Podiumsdiskussion, die von Daniel Fleischmann, Chefredakteur der Fachzeitschrift Folio, moderiert wurde, waren folgende Experten vertreten (v.l.nr.):
Prof. Dr. Peter Bonati
Ehemaliger Professor an der Universität Bern; Experte bei der Erstellung des Rahmenlehrplans Berufsmaturität 2012
Dr. Rolf Knechtli
Geschäftsführer aprentas, Mitglied der Eidgenössischen Berufsmaturitätskommission (Deutschschweiz)
Claude Pottier
Chef du service de la formation professionnelle du canton du Valais; Präsident der SBBK Steuerungsgruppe für die Evaluation der Berufsmaturität
Rudolf Siegrist
Rektor der Berufsfachschule Baden
Sabina Mohler
OdA Gesundheit beider Basel, Abteilungsleiterin Berufsmaturität Berufsfachschule Gesundheit Basel Land
Prof. Dr. Philipp Gonon
Lehrstuhlinhaber Lehrstuhl für Berufsbildung, Universität Zürich
Theo Ninck
Präsident der Schweizerischen Berufsbildungsämterkonferenz (SBBK)
Zusammenfassung der Podiumsdiskussion
Peter Bonati legt drei Herausforderungen an die Berufsmaturität dar, die in seinen Augen besonders wichtig sind: die Sicherung des „Königswegs“ an die Fachhochschulen, die Internationalisierung des schweizerischen Arbeitsmarktes und die hohe Abbruchquote an der Berufsmaturität 1 (BM 1). Nach Meinung von Bonati schafft der neue Rahmenlehrplan günstige Voraussetzungen für die Berufsmaturität, um mindestens der ersten Herausforderung erfolgreich begegnen zu können. Der Rahmenlehrplan sei jedoch nur so viel wert wie seine nachhaltige und innovative Umsetzung an den Berufsmaturitätsschulen, was die Sicherung des Königswegs bedeuten würde. Bonati argumentiert, dass die Berufsmaturität ihr „Zielpublikum“ in zweierlei Hinsicht erweitern müsse. In Schweiz gelte dies vor allem für Jugendliche, deren Eltern nicht mit dem schweizerischen Bildungssystem vertraut sind und somit die BM gar nicht als Ausbildungsoption für ihr Kind erachten. Bonati sieht diese Optionen zum einen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, wie beispielsweise ein „Boris Bosnjakovic“. Zum anderen müsse die BM auch für schulstarke Jugendliche attraktiver gemacht werden, die von ihren Eltern prinzipiell eher auf ein Gymnasium geschickt werden, wie zum Beispiel deutsche Familien, die in der Schweiz wohnen. Gerade in Hinblick auf die Internationalisierung des Arbeitsmarkts sei dies wichtig. Zum Schluss geht Bonati noch auf die hohe Abbruchquote ein und stellt als Frage in den Raum, was man tun könne, damit mehr Jugendliche, welche die BM 1 beginnen, diese auch abschliessen.
Rolf Knechtli beleuchtet in seiner Argumentation die Berufsmaturität aus Sicht der Wirtschaft. Genau wie Peter Bonati ist Knechtli der Ansicht, dass die Berufsmaturität für leistungsstarke Jugendliche als gleichwertige Alternative zum Gymnasium in der Gesellschaft verankert bleiben müsse. Die Wirtschaft sei auf gut ausgebildete Berufsleute angewiesen. Aus diesem Grund müsse man Sorge dazu tragen, dass weiterhin auch gute Schülerinnen und Schüler eine Berufslehre wählen. Knechtli führt ebenfalls das Argument des internationalen Arbeitsmarkts an: Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, brauche es die duale Ausbildung mit Berufsmaturität, um gegenüber den alternativen schulischen Abschlüssen der ausländischen technischen Bildungsinstitutionen konkurrenzfähig zu sein. Knechtli argumentiert, dass die Berufsmaturität durch den Praxisbezug und die spezifische Vorbereitung auf einen entsprechenden Studienbereich den optimalen Zugang zur Fachhochschule darstellt. Knechtli spricht sich für eine höhere Berufsmaturitätsquote aus, da diese seiner Ansicht nach das duale Bildungssystem aufwerte und die Berufslehre zukunftsfähig mache.
Claude Pottier sieht als eine Herausforderung und auch „Einsatzgebiet“ des Rahmenlehrplans 2010 die Verstärkung der Wahrnehmung und der Attraktivität der Berufsmaturität besonders auf „unbekannten“ Gebieten, insbesondere in anderen als den kaufmännischen und technischen Bereichen. Gemäss Pottier sollte eine Aufwertung des gesamten Inhalts der Berufsmaturitäten (im Vergleich zu den anderen schweizerischen Maturitäten, wie der gymnasialen Maturität und der Fachmatura) geschehen, da diese Allgemeinbildung und einen Berufsbildungsabschluss, Erfahrung sowie praktische und theoretische Kenntnisse vereint. Zum anderen verlangt Pottier eine bessere Positionierung der Berufsmaturität als Zusatz-Weiterentwicklung-Zwischenlösung zwischen zwei beruflichen Grundbildungen mit doppelter Perspektive auf Karriere und auf persönliche, soziale Weiterentwicklung. Auch Pottier sieht den „Königsweg“ an die Fachhochschulen, zudem sollten die Absolventen eine ausreichende Basis erreichen, damit ein Abschluss in der höheren Berufbildung (eidg. Fachausweis und eidg. Diplom) angestrebt werden kann. Aufgabe des neuen Rahmenlehrplans 2012 sei es, die Attraktivität der Berufsmaturität zu steigern und den Zugang für ein breiteres Publikum zu ermöglichen, sowohl bei der integrierten BM bei der beruflichen Grundbildung als auch in weiterführenden Ausbildungen.
Rudolf Siegrist kritisiert die neue Verordnung als „alter Wein in neuen Schläuchen“. Seiner Meinung haben zu viele Akteure (Lehrpersonen verschiedener Disziplinen, Lehrbetriebe, Fachhochschulen, Bildungstheoretiker etc) mit zu unterschiedlichen Zielen eine wirkliche Reform verunmöglicht. Er hält fest, dass nur eine schweizweite Befürwortung bei Gewerbe und Industrie für Attraktivität und Innovation führen kann. Dies sei aber bislang nicht der Fall. Siegrist sieht einen Nachteil darin, dass der Rahmenlehrplan zuviel Interpretationsspielraum beim Abschluss (Eidg. Berufsmaturitätszeugnis) zulässt, um die Marke „Berufsmaturität“ national und international zu festigen. Es fehle eine Standardisierung und eine Homogenisierung der Ansprüche, wie sie in anspruchsvollen Berufen verfolgt werde und für die allgemeine Studierfähigkeit an Fachhochschulen wünschenswert gewesen wäre. Siegrist betont, dass es im Bereich „überfachliche Kompetenzen“ eine Vereinheitlichung mit dem Berufskundeunterricht brauche, sowie ganz generell ein konsistentes Kompetenzmodell im Rahmenlehrplan. Siegrist sieht das Problem, dass sich Jugendliche nicht nur mangels Interesse gegen eine BM entscheiden. Oftmals verweigern Lehrbetriebe den Besuch der Berufsmaturität und gute Lernende hätten zudem einen grossen Aufwand, um eine Lehrstelle zu finden. Hinzu komme die aggressive Abwerbung von Jugendlichen am Gymnasium durch die Fachhochschulen, die die Attraktivität der BM zusätzlich verringeree. Ebenfalls schwächend würde sich die Berufsmaturität II auswirken, die im Vergleich mit der gymnasialen Matur die Ausbildungszeit um zwei Jahre verlängere. Als „Lichtblick“ sieht Siegrist das Ausloten des Handlungsspielraums der Berufsmaturitätsschulen, darunter eine vermehrte und direkte Zusammenarbeit mit den Fachhochschulen oder die Umsetzung des Rahmenlehrplans in gute Schullehrpläne.
Sabina Mohler betont, dass die Kooperation innerhalb der Berufsbildung einer der wichtigen und substanziellen Kernpunkte bildet. Die Zusammenarbeit beziehe sich auf die Kooperation innerhalb der Berufsmaturitätsfächer in Form von interdisziplinärem Arbeiten, auf die Kooperation zwischen Berufsmaturität und Berufskunde-Unterricht und die Kooperation der drei Lernorte (Berufsfachschule, überbetrieblicher Kurs, Lehrbetrieb). Gemäss Mohler ergäben all diese Komponenten zusammen die berufliche Kompetenz mit vertiefter Allgemeinbildung. Dies heisse im Konkreten: die Organisation und Koordination der Unterrichtsziele, -inhalte und mittel miteinander, der Informationsaustausch, das Abstimmen und das Zusammenwirken, sowie das Entwickeln einer gemeinsamen, lernortübergreifenden Lernkultur.
Philipp Gonon argumentiert, dass die Berufsmaturität, die in den 90er-Jahren etabliert wurde, die wichtigste Reform der Berufsbildung ist. Sie habe die Durchlässigkeit zwischen dem Sekundarstufen II Bereich und der Hochschulstufe wesentlich erleichtert. Gonon erklärt, dass damit der Weg geebnet wurde, neben der „klassischen“ akademischen Bildung eine reale Alternative, beruhend auf einem ausgebauten und etablierten Fachhochschulbereich, einzurichten. Auf der anderen Seite hätten die Qualität und Transparenz jedoch nicht immer mit dem Wachstum Schritt gehalten. Gonon kritisiert, dass die einzelnen Berufsmaturitätstypen zu heterogen seien, insofern ginge die Revision des Rahmenlehrplans in die richtige Richtung, andererseits würde zu wenig ernsthaft evaluiert, wie erfolgreich diese Innovation hinsichtlich Ausbildungsinhalte und Studienerfolg der Absolvierenden sei. Gemäss Gonon könnte noch ein weiterer paradoxer Effekt entstehen: die Abwertung der bisherigen traditionellen Berufsbildung.
Theo Ninck sieht die Vorteile der Berufsmaturität in einer hohen Hochschul- und Arbeitsmartkfähigkeit. Die BM könne auch für schulisch überdurchschnittliche Jugendliche eine Herausforderung sein. Ninck bekräftigt, dass die Attraktivität der BM von der Kombination von hohen beruflichen und hohen Allgemeinbildungs-Kompetenzen abhinge, die gepflegt und weiter entwickelt werden müssten. Die BM sei keine Gym-Matu-light, die Qualität müsse hochgehalten werden. Ein Lösungsweg sieht Ninck in einem dezentralen BM-Angebot und in der Unterstützung der Lehrbetriebe. Zudem brauche es das Vertrauen der abnehmenden Hochschulen in die Qualität der BM. Bezüglich der Durchlässigkeit zu den Hochschulen sieht Ninck Vor- und Nachteile. Eine Coiffeuse, die ein BWL-Studium beginnt, sei sicherlich erwünscht. Bei einem Polymechaniker, der sich zu einem Psychologie-Studium entschliesst, sehe er dies anders. Zudem dürfe die Durchlässigkeit nicht dazu führen, dass das Profil der BM und auch der Fachhochschulen verwässert werde. Für die Zukunft ergeben sich für Ninck folgende Herausforderungen: die Übertrittsquoten an die Hochschulen zu erhöhen, die BM gerade auch für Talente aus bildungsfernen Kreisen, z.B. Jugendliche mit Migrationshintergrund, interessanter zu machen, sowie den Bekanntheitsgrad der BM in gewissen Bildungskreisen zu erhöhen. Schliesslich habe man in der Schweiz eine Gesamtmaturitätsquote von über 35% und mehr als ein Drittel der 20jährigen Erwachsene habe einen Hochschulzugang, mit steigender Tendenz.
In der anschliessenden Diskussion mit dem Publikum zeigten sich einige Baustellen, auch wenn sich der Löwenanteil des Podiums positiv und zuversichtlich zum Thema aussprach. So brachte die Frage eines Teilnehmers, welche Argumente er seinem Vorgesetzen anführen soll, um zusätzliche Finanzen für die Berufsmaturität in seinem Betrieb zu erhalten, sowohl im Podium als auch im Publikum engagiert Begründungen zutage; wirklich schlagkräftig waren sie aber nicht. Dies bestätigte indirekt die von Rudolf Siegrist hervorgebrachte These, dass die Firmen ausser zusätzlichen Kosten und einem Lernenden, der einen weiteren Tag im Betrieb fehlt, keinen Mehrgewinn in einem Berufsmaturanden sehen würden.
Eine länger dauernde Diskussion entbrannte um das Thema „Gender“. Auch in der Berufsmaturität könne man die typische Geschlechterverteilung finden, die in manchen Berufen bewirke, dass sich die Hälfte aller potenziellen Anwärterinnen und Anwärter gar nicht erst für eine BM interessiere. Um die BM attraktiver zu machen, müsse man also nicht nur sehr talentierte und lernstarke Jugendliche sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund ansprechen, sondern auch gezielt das andere Geschlecht bei geschlechtstypischen Berufen wie z.B. in der Pflege oder MINT anwerben.
Am Beispiel der vorbildhaften Berufsfachschule Pflege Baselland, wo Sabina Mohler Abteilungsleiterin für BM I + II ist, zeigten sich deutlich vorhandene Ungleichzeitigkeiten: Während bei einigen Schulen die Wichtigkeit der Förderung der Berufsmaturität erkannt und dafür ein deutlicher Mehraufwand an Arbeit, Engagement und Koordinationsbereitschaft freiwillig in Kauf genommen wird, stehen andere Schulen damit noch ganz am Anfang.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es für eine Stärkung der Berufsmaturität noch deutlich mehr Vernetzung, mehr (freiwilliges) Engagement und mehr Aufklärungsarbeit der Akteure an der Basis braucht. Es braucht nicht mehr zu wiederholt werden, dass die Berufsmaturität eine gute Sache ist, es geht nun um die Art der Umsetzung in der Praxis.
Flyer mit Programm. Download als pdf hier.